Sehr geehrte Damen und Herren

Wir kommen heute zusammen, weil Wahljahr ist. Es ist Wahlkampf.

Das Wort Wahlkampf hat in diesen Tagen allerdings einen sonderbaren Klang: gekämpft wird derzeit anderswo.

In Nordafrika kämpfen Menschen gegen menschenverachtende Regimes um mehr Freiheit - sie kämpfen unter anderem um die Freiheit, sich zu versammeln und sich frei zu äussern, so wie wir es heute tun. Für diese Freiheit setzen sie ihr Leben aufs Spiel, viele haben es bereits verloren.

Wenn wir aus den ungewissen Folgen der Revolten jetzt schon einen Schluss ziehen können, dann diesen: Die Ereignisse in Nordafrika erinnern uns in ihrer ganzen Brutalität daran, dass der stabile Frieden, den wir in Mitteleuropa haben, alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist.

Vergessen wir nicht, vor 65 Jahren lag ein zerrissenes Europa in den Trümmern des Krieges. In Deutschland, Frankreich, Italien lagen ganze Städte in Schutt und Asche. Niemand hätte damals auch nur zu denken gewagt, dass auf diesem Kontinent nur wenige Jahrzehnte später die Grenzen aufgehoben würden.

Dieser Frieden - und es gab in der Geschichte Europas wohl noch nie eine friedliche Phase, die länger gedauert hat - dieser Frieden ist die Grundlage für unsere demokratischen Staatsordnungen, die uns die freiheitlichen Grundrechte garantieren, z.B. die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Vergessen wir also nicht: Die wichtigste Aufgabe der Politik ist es, diesen Frieden und unsere demokratischen Errungenschaften immer wieder zu erneuern und zu stärken.

Diese Aufgabe liegt in der gemeinsamen Verantwortung aller politischer Akteure, aller Parteien, aller Schweizer Bürgerinnen und Bürger, aller Menschen, die in unserem Land leben.

Es ist wichtig, dass wir das, was uns alle verbindet, auch und gerade in Wahljahren nie ganz aus den Augen verlieren.

Die Gefahr, dass dies geschieht, ist in solchen Jahren ja ziemlich gross. In Wahljahren wird alles politisch verwertet. Der politische Opportunismus treibt kräftig Blüten und Gesinnungspirouetten sind an der Tagesordnung.

Zwar wissen wir alle: Wer Politik betreibt, übernimmt Verantwortung und riskiert dabei, sich die Hände schmutzig zu machen. Wir wollen deshalb nicht mit dem Finger auf andere zeigen und uns selbstgefällig auf die Schultern klopfen.

Es gibt aber im politischen Umgang mit Kriegen und Katastrophen gewisse Grenzen - Pietätsgrenzen, Grenzen des Anstands, aber eben oft auch Grenzen der Glaubwürdigkeit.

Liebe Genossinnen und Parteifreunde, unsere Glaubwürdigkeit beruht darauf, dass wir uns konsequent - ob Wahlen anstehen oder nicht - an unseren grundlegenden sozialdemokratischen Werten ausrichten: an der Chancengleichheit, an der Solidarität und an der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit.

Aus diesen Werten entstehen unsere politischen Ideen und Projekte, z.B. unser Engagement für bezahlbaren Wohnraum, um nur ein Beispiel aus dem 10-Punkt-Programm zu nennen, das die Partei heute verabschiedet hat.

Das ist es auch, was unsere Wählerinnen und Wähler von uns erwarten: dass wir diese Werte überall und in allen politischen Bereichen einbringen.

Natürlich muss jede Partei Schwerpunkte setzen - und Politologen und Meinungsforscher haben dazu ja auch sehr klare Vorstellungen (und oft auch: sehr unterschiedliche).

Lange war z.B. die Meinung verbreitet, die SP solle sich über Umweltanliegen nur zurückhaltend äussern, das käme ohnehin nur der Konkurrenz zugute. Ich teile diese Einschätzung nicht. Eine aktive Umweltpolitik ist für mich ein sozialdemokratisches Kernanliegen, und ich begrüsse es, dass wir ihr z.B. mit unserer Cleantech-Initiative einen hohen Stellenwert einräumen.

Auch Migrations-, Asyl- und Ausländerfragen sind immer wieder Gegenstand taktischer Überlegungen.

Über diesen taktischen Spielraum verfüge ich als zuständige und verantwortliche Migrationsministerin nicht - und ich ergänze gerne: zum Glück nicht.

Ich sage das auch deshalb, weil ich regelmässig gefragt werde, ob es mir gut gehe in meinem Amt mit all diesen schwierigen und politisch so aufgeladenen Themen. Nach bald fünf Monaten kann ich dazu Folgendes sagen:

Erstens: Diese Themen sind tatsächlich anspruchsvoll ...
Zweitens: Meine Faszination für diese Themen hält nicht nur an, sie nimmt mit jedem Tag weiter zu. Die Migrationsthematik ist ein absolut zentraler gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Brennpunkt.
Drittens staune ich, wie oft z.B. im Asylbereich immer wieder mit polemischen oder schlichtweg falschen Begriffen Politik betrieben wird.

Nehmen wir das Wort Wirtschaftsflüchtling: In den letzten Wochen wurde immer wieder lauthals gefordert, die Schweiz dürfe keine Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen.
Die Forderung ist aber völlig absurd - weil wir das ohnehin nicht tun. Ein Flüchtling ist eine Person, die Schutz braucht. Wer hingegen auswandert, weil er Arbeit sucht, erhält gemäss Asylgesetz keinen Flüchtlingsstatus.

Sprechen wir also statt von Wirtschaftsflüchtlingen von Arbeitsmigranten. Und vergessen wir auch nicht - selbst wenn wir ihnen kein Asyl gewähren - dass es absolut nachvollziehbar ist, in einem anderen Land Arbeit zu suchen, wenn man im eigenen keine Perspektive hat. (Genau das haben im 19. Jahrhundert auch über 200'000 Schweizerinnen und Schweizer getan.)

Ich frage mich ohnehin, ob der Begriff Wirtschaftsflüchtling nicht viel besser passt zu manchen Spitzenmanagern, die jedes Mal mit einer Flucht aus der Schweiz drohen, wenn über zusätzliche Regulierungen gesprochen wird.
Etwas Weiteres ist mir in den letzten fünf Monaten immer wieder aufgefallen. Viele Menschen - und es sind mehr, als wir vielleicht vermuten - schätzen es, wenn wir im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik auch die menschlichen Aspekte ansprechen. Allerdings, und das ist ein ganz entscheidender Punkt, erwarten sie von uns, dass wir uns auch aktiv mit den Problemen auseinandersetzen, die es in diesen Bereichen gibt.

So ist es richtig, dass wir uns für faire Asylverfahren mit einer guten Rechtsberatung einsetzen. Das allein genügt aber nicht. Wenn wir wirklich glaubwürdig sein wollen, müssen wir uns auch dafür einsetzen, dass Menschen, die am Ende eines fairen Verfahrens einen negativen Asylentscheid erhalten, wirklich ausreisen müssen.

Das braucht manchmal etwas Mut. Und Mut ist es auch, was viele Mitarbeitende des Bundesamts für Migration täglich aufbringen müssen. Es braucht Mut, zu entscheiden, ob ein Mensch bei uns bleiben darf, oder ob wir ihn zurückschicken in ein Land, in dem er nicht mehr bleiben wollte.

Und es braucht Mut, diesem Menschen den Entscheid persönlich mitzuteilen, ihm dabei in die Augen zu schauen.

Ich bin den Mitarbeitenden, die diese anspruchsvolle Arbeit leisten, dankbar. Und ich weiss, wie viel einfacher es ist, ihre Entscheide einfach als zu lasch oder zu streng zu kritisieren.

Die letzten Monate haben mir auch gezeigt, dass die Diskussionen zu Migrations- und Ausländerfragen von Widersprüchen geprägt sind und teilweise entlang tiefer Gräben zwischen Stadt und Land und der Deutsch- und Westschweiz verlaufen.

Liebe Genossinnen und Genossen, was können wir dazu beitragen, dass diese Widersprüche abgebaut werden? Dass sich die beängstigenden Gräben in unserer Gesellschaft nicht weiter aufreissen? Was ist der „Kitt" in unserem Land, in unserer Gesellschaft?

Eines ist sicher: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen uns - im Sinne einer Politik „Für alle" - dieser Fragen annehmen. Wir haben hier eine Verantwortung, wir haben aber mehr als nur das: Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Partei auch das Potenzial, die Ideen und die Kreativität haben, Antworten auf diese schwierigen Fragen zu finden.

Eine dieser Antworten ist eine überzeugende und glaubwürdige Integrationspolitik. Ich erachte eine gute Integrationspolitik als eine der wichtigsten Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Integration verbindet, stärkt den Zusammenhalt in unserem Land und ist die Voraussetzung für Chancengleichheit.

Wir sind uns einig: Es erfordert nicht viel Mut, einfach zu sagen, Integration sei Sache der eingewanderten Menschen.

Ich bin aber der Meinung, dass es auch nicht allzu viel Mut erfordert, Integration vor allem als ein Bereitstellen von möglichst vielen Angeboten zu verstehen.

Wer sich mit Integrationsprozessen auseinandersetzt, weiss, dass Integration anstrengend und anspruchsvoll ist, und zwar für beide Seiten.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich freue mich, all diese Themen mit euch weiter zu diskutieren. Ihr habt von mir keine Ratschläge nötig für das Wahljahr, und ich will deshalb abschliessend nur auf etwas hinweisen, das mir doch sehr aufschlussreich scheint:

Ich habe auch bei diesen so genannt schwierigen Themen nie gezögert, Probleme anzusprechen. Auch dann nicht, wenn ich noch keine Lösung anzubieten hatte. Und genau dies ermöglichte es oft, dann auch über andere Aspekte der Migration zu sprechen. Zum Beispiel darüber, dass Migration eine historische Konstante ist, dass Migration Gesellschaften stets auch bereichert - und dass die Begegnung mit anderen Kulturen eine der wichtigsten Quellen ist für die menschliche Entwicklung.

Auch deshalb möchte ich zum Schluss etwas in aller Deutlichkeit festhalten: Die humanitäre Tradition der Schweiz ist unantastbar. Sie ist Teil der sozialdemokratischen Identität, sie ist Teil unserer nationalen Identität.

"Wer Politik betreibt, übernimmt Verantwortung"