Sehr geehrte Damen und Herren

Ich habe die Einladung an diesen Anlass von meiner Vorgängerin, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, übernommen - und ich habe das sehr gerne gemacht. Die heutige Tagung beleuchtet nämlich einen wichtigen, einen neuen, einen gleichzeitig auch alltäglichen Teil der Migration: das Älterwerden von Menschen, die zu uns in die Schweiz gekommen sind.
Sie haben für Ihre Tagung einen speziellen Zeitpunkt gewählt: zwei Tage nach der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative.

Das ist mutig, und dieser Mut gefällt mir. Ich möchte mich deshalb auch gleich zur Initiative äussern. Aber nicht zum Abstimmungsergebnis. Das habe ich schon sehr ausführlich getan. Ich möchte Ihnen vielmehr von einer Taxifahrt erzählen, die ich wegen der Initiative machte.

Am fünften Tag nach meinem Amtsantritt nahm ich an der Arena des Schweizer Fernsehens zur Ausschaffungsinitiative teil. Ich reiste mit dem Zug von Bern nach Zürich-Oerlikon und stieg dort mit zwei Mitarbeitenden in ein Taxi. Der Taxifahrer erkannte mich nicht, ich war ja erst fünf Tage im Amt. Bald ergab sich ein munteres Gespräch. Der Taxifahrer behauptete, er sei schon in der Schweiz gewesen, bevor ich auf der Welt war. Ich sagte, dass ich das nicht glaube. Aber er insistierte und verkündete schliesslich stolz, er sei schon seit 47 Jahre in der Schweiz.

Damit hatte er mir ein charmantes Kompliment machen wollen, und das war ihm auch gelungen. Er erzählte uns dann noch, dass er aus dem Süden Italiens stamme, aus Kampanien, dass er bald pensioniert werde, und dass er in Italien zwar ein Haus habe, aber hier in der Schweiz alt werden wolle, denn seine Töchter und Enkel lebten ja auch hier.
So weit, so gut, denken Sie sich vielleicht, aber wozu erzähle ich Ihnen diese doch sehr alltägliche Geschichte?
Ich erzähle sie einerseits, weil diese Begegnung mit einem Migranten unmittelbar vor der Arena zur Ausschaffungsinitiative etwas Spezielles hatte.

Ich erzähle sie aber vor allem, weil der sympathische Taxifahrer von Anfang an und die ganze Fahrt über nur Italienisch mit uns sprach. Er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass wir ihn verstehen, was ja auch der Fall war. Als mein Mitarbeiter am Ende der Fahrt die Rechnung beglich, zeigte sich dann aber, dass die Deutschkenntnisse des Taxifahrers nicht sehr gut waren. Obwohl er, wie gesagt, seit 47 Jahren in der Deutschschweiz lebt.

Lassen Sie mich ein paar Worte sagen zu einem zweiten Mann, der ebenfalls fast 47 Jahre in der Deutschschweiz verbracht hat:
Mein Vater war ebenfalls ein Arbeitsmigrant, wenn auch ein "innerschweizerischer". Als Tessiner studierte er und arbeitete dann während 45 Jahre in der Deutschschweiz. Ein Leben lang plante er, nach der Pensionierung ins Tessin zurückzukehren. Meine Eltern hatten im Tessin ein Haus gekauft und mein Vater hatte sich auf eine Rückkehr gefreut.
Leider starb er nur zwei Monate nach seiner Pensionierung. Vielleicht auch, weil er realisierte, dass er eigentlich gar nicht mehr ins Tessin zurück konnte: denn das Tessin war schon längst nicht mehr "seine Heimat", wie er sie kannte. Aber auch in der Deutschschweiz war er nie richtig heimisch geworden. Mehr als ein halbes Leben lang hatte er sich nach der Rückkehr in seine Heimat gesehnt.

Was zeigen uns die Geschichten dieser beiden Migranten?
Gerade weil es zwei sehr unterschiedliche Beispiele sind, können wir sehr viel von ihnen ableiten. Zunächst sind es in zweierlei Hinsicht sehr typische Beispiele:

Erstens haben die beiden Männer, wie die allermeisten Migranten, ihr Leben lang gearbeitet.
Und zweitens wurden sie dabei, wie die allermeisten Migrantinnen und Migranten, nicht kriminell.

Ich weiss, das sind weder neue noch überraschende Aussagen, aber vielleicht müssen wir sie derzeit doch wieder etwas öfter wiederholen.
Die beiden Beispiele zeigen aber auch: Migration und Integration sind anspruchsvolle Prozesse, die immer auch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sind.

Auch nach Jahrzehnten in der neuen „Heimat" lösen sich manche dieser Schwierigkeiten nicht einfach auf. Oft fühlen sich gerade frisch pensionierte Migrantinnen und Migranten noch einmal ganz besonders hin- und hergerissen zwischen der alten und der neuen Heimat.

Unterschiede gibt es bei den beiden Beispielen in Bezug auf die schulische Ausbildung und die berufliche Qualifikation. Solche Unterschiede wirken sich stark aus: Beruflich qualifizierte Migrantinnen und Migranten eignen sich nicht nur schneller die Sprache an. Sie werden auch seltener arbeitslos. Womit wir bei einem zentralen Stichwort wären: der Arbeit.

Arbeit und Integration

Als damals in den Boom-Jahren der 50er und 60er viele der heute älteren Migrantinnen und Migranten in die Schweiz kamen, fehlte es nicht an Arbeit, es fehlte im Gegenteil an Arbeitskräften.
Es wurde gebaut, was das Zeug hielt, nicht nur Häuser, auch die ersten Autobahnen wurden gebaut, vorwiegend von Gastarbeitern, die wir zu tausenden in die Schweiz holten.
Gastarbeiter waren es auch, die zwischen 1970 und 1980 den Gotthard-Strassentunnel bauten. Als Unterkünfte für die überwiegend italienischen Arbeiter dienten Holzbaracken mit Zimmern, in welchen bis zu vier Arbeiter zusammen wohnten.
Die Lebensverhältnisse der Gastarbeiter am Gotthard-Strassentunnel zeigen, dass die Integration damals noch kein Thema war. Arbeitersiedlungen, räumliche Ausgrenzung und Ghettoisierung statt Integration, könnte man sagen - und italienisches Fernsehprogramm statt Sprachkurse.

Es gab damals keine Integrationspolitik; eine Integration der Gastarbeiter wurde politisch gar nicht angestrebt. Auch für viele Migranten war die Integration kein Ziel: Viele kamen in die Schweiz mit der Idee, nach einigen Saisons, spätestens aber im Alter in ihre Heimat zurückzukehren.

Heute wissen wir: Viele Migranten blieben viel länger, als sie dachten, nämlich für immer.
Und heute wissen wir deshalb auch: Es war ein Fehler, dass wir sehr lange schlicht und einfach keine Integrationspolitik entwickelt haben.

Damit will ich sagen, und dieser Aspekt ist mir wichtig: Es gab Versäumnisse sowohl seitens der Politik als auch seitens vieler Migranten. Jemand bezeichnete diese unglückliche Kombination einmal zutreffend als „gegenseitige Illusion eines temporären Aufenthalts".

Auch ohne Integrationspolitik lebten sich die Gastarbeiter langsam bei uns ein. Sie bekamen Kinder. Sie gründeten Vereine. Sie wanderten zwischen zwei Welten. Sie übernahmen Restaurants und gründeten kleine Unternehmen, Gipserbetriebe, Bauunternehmungen. Sie bekamen Enkelkinder, sie wurden älter. Und sie blieben hier.

Migration und Alter

Heute spüren gerade ältere Migrantinnen und Migranten die Langzeitfolgen der mangelnden Integrationspolitik, aber auch des oft mangelnden Integrationswillens.
Sie leben zwar schon seit Jahrzehnten hier, haben aber dennoch Mühe, den gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Dies gilt insbesondere für die 1. Generation der Zugewanderten, die oft die lokale Landessprache nur schlecht beherrschen.
Die Unkenntnis der Sprache hat eine generelle Distanz zu unseren Institutionen zur Folge. Viele dieser Migrantinnen und Migranten sind oder waren zudem in Niedriglohnbereichen tätig und somit sozial und ökonomisch schlechter gestellt als die einheimische Bevölkerung. Sie sind daher auch stärker und früher von gesundheitlichen Problemen betroffen.

Wir wissen, dass von den 63- bis 74-jährigen Schweizerinnen und Schweizern nur 4% ihren Gesundheitszustand als schlecht bezeichnen, von den gleichaltrigen Ausländern sind es sechs Mal mehr, also 25%. Sprachliche Barrieren, finanzielle Probleme, mangelnde Information und auch Vorbehalte gegen staatliche Einrichtungen habe zudem zur Folge, dass vielen Migranten Mühe haben, die Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens in Anspruch zu nehmen.

Aktuelle Integrationsförderung

Die Institutionen, die Leistungen erbringen für Personen im dritten Lebensabschnitt, müssen sich also vorbereiten auf die Migrantinnen und Migranten. Gefragt ist eine spezifische Integrationsförderung. Mit migrationsspezifischen Aus- und Weiterbildungen des Personals der Alterspflege und -arbeit leisten diese Institutionen bereits heute oft einen äusserst wertvollen Beitrag zur Integration.

Darüber hinaus muss insbesondere die Information und die Kommunikation mit schwer erreichbaren Migrantinnen und Migranten - und dazu zählen die älteren Einwanderer und unter ihnen ganz besonders die Frauen - verbessert werden.
Der Bund will deshalb insbesondere in den Bereichen Information und Beratung verstärkt Beiträge an kantonale Integrationsprogramme leisten.

Die heutige Tagung zeigt, dass sich die Herausforderungen im Migrations- und Integrationsbereich stets verändern. Ein Blick zurück macht dies sehr deutlich:
Zum einen verändern sich die Migrantinnen und Migranten. Es kamen ja in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht nur Italiener und Spanierinnen, sondern auch Portugiesen, Ungarn und Ungarinnen, Tschechen, Türkinnen, Tamilen, Kurden, Menschen aus dem Balkan, Afrikanerinnen und Afrikaner, Deutsche (und viele mehr). Dabei wandelte sich im Laufe der Zeit auch unser Verständnis von Integration.

Wandel des Integrationsverständnisses
Die Vorstellung, Integration bedeute dasselbe wie Assimilation - also Anpassung -, ist weitgehend überwunden. (In manchen Köpfen hält sie sich allerdings hartnäckig.)
Wir tun uns aber immer noch schwer zu definieren, wer integriert ist:

Ist es, wer aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnimmt?
Ist es, wer keinen Ärger macht und sich an unsere Regeln und Gesetze hält?
Ist es, wer berufstätig ist und unsere Sprache spricht?

Grundsätzlich besteht heute Einigkeit darüber, dass Integration nur funktionieren kann, wenn sie einerseits als gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird und wenn sich anderseits auch die Migrantinnen und Migranten bemühen, sich einzugliedern.
Es besteht weitgehend Einigkeit, dass Integration sowohl gefördert als auch eingefordert werden soll.

Dennoch stelle ich fest, dass es derzeit schwierig ist, unbelastet und positiv über Migration und Integration zu diskutieren. Das hat meines Erachtens zwei Gründe:

Zum einen werden diese Themen seit Jahren mit grossem Aufwand als „Problembereiche" politisch bewirtschaftet.
Zum andern ist es der Politik nicht wirklich gelungen, eine glaubwürdige Integrationspolitik zu entwickeln.

Vertrauen schaffen für eine glaubwürdige Integrationspolitik

Es ist mir bewusst, dass hier eine schwierige Aufgabe auf mich zukommt. Ich freue mich aber auch auf sie. Nicht nur weil ich schwierige Aufgaben mag, sondern vor allem weil ich weiss, wie wichtig es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Schweiz wäre, unsere Integrationspolitik in der Bevölkerung besser abzustützen und zu verankern.
Ich erachte es also als eine meiner wichtigsten und gleichzeitig anspruchsvollsten Aufgaben, in diesem Bereich mehr Vertrauen zu schaffen.

Vertrauen entsteht, wenn wir Probleme nicht aus politischen Gründen aufbauschen, wenn wir sie aber auch nicht verharmlosen oder tabuisieren.

Vertrauen entsteht, wenn wir genau hinschauen und Probleme sachlich und klar benennen, und zwar auch dann, wenn wir noch keine Lösung für sie haben.

Vertrauen schaffen wir, wenn wir Probleme anpacken und sie nicht einfach unter den Tisch kehren, weil wir uns politisch vielleicht die Finger verbrennen könnten.

Ausschaffungsinitiative und Integration

Lassen Sie mich damit doch noch kurz zur Ausschaffungsinitiative kommen:

Zunächst möchte ich auch hier und heute nochmals wiederholen, dass ich den Auftrag der Bevölkerung annehme und zur Umsetzung der Initiative eine Arbeitsgruppe einsetzen werde.
Darüber hinaus deute ich das Ergebnis nicht als generell ausländerfeindliches Votum, sondern als hartes Zeichen ausdrücklich gegen kriminelle Ausländer.
Und schliesslich ist das Ergebnis für mich ausdrücklich eine Botschaft, mich für eine Integrationspolitik einzusetzen, die in der Bevölkerung mehr Vertrauen geniesst, als dies heute der Fall ist.

Der Auftrag dazu besteht bereits, er ist im Ausländergesetz ausdrücklich festgehalten.

Die Schweiz wäre nicht die Schweiz ...

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin sicher, dass Sie es heute nicht zum ersten Mal hören - und trotzdem möchte ich es ausdrücklich erwähnen: die Schweiz wäre ohne ihre Migrantinnen und Migranten ein anderes, ein ärmeres Land.
Wir können - gerade in diesen Zeiten - nicht oft genug aufzählen, was es ohne Migrantinnen und Migranten alles nicht gäbe, was alles zusammenbrechen würde:

unser Gesundheitssystem zum Beispiel,
unsere Gastronomie und Hotellerie,
unsere Bauwirtschaft.

65'000 Ausländerinnen und Ausländer arbeiten im Gastgewerbe, 100'000 sind allein im Gesundheitswesen tätig.

Zweifellos haben Sie an Ihrer heutigen Tagung auch daran erinnert, dass wir unseren Wohlstand in dieser Form ohne Migranten nicht erreicht hätten.

Es ist wichtig, dass wir immer wieder an diese ökonomischen Aspekte erinnern. Ohne solche Argumente ist in dieser Zeit, wo man alle Lebensbereiche fast nur noch unter Kosten- und Nutzenaspekten anschaut, wenig zu erreichen.

Belassen wir es aber nicht bei diesen Argumenten. Hüten wir uns, Ausländerinnen und Ausländer primär als Wohlstandsvermehrerinnen und Wohlstandsvermehrer zu betrachten - die Sprache kann hier verräterisch sein. Wir reden von Menschen, die hier in der Schweiz mit uns leben, die unser Land mit uns prägen, die hier ihr Glück suchen, wie wir es tun, die hier alt werden, die den dritten Lebensabschnitt in Würde leben möchten, die hier eines Tages, so wie wir auch, sterben werden.

Wir reden von Menschen wie z.B. dem Taxifahrer, der mich von Oerlikon ins Fernsehstudio zur Arena fuhr. Er verkörpert für mich beides:

Die Bereicherung (und ich meine jetzt eben nicht nur die wirtschaftliche Bereicherung), welche die Schweiz durch ihre Migrantinnen und Migranten erfuhr.
Der sympathische Taxifahrer verkörpert für mich aber auch Versäumnisse und Fehler der Integrationspolitik.

Wir wollen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, und ich möchte Ihnen heute danken, dass Sie einen wertvollen Beitrag dazu leisten.

Geschätzte Damen und Herren, die Sie sich im Migrationsbereich engagieren, geschätze Migrantinnen und Migranten, geschätzte Schweizerinnen und Schweizer mit und ohne Migrationshintergrund:

Wir alle machen die Schweiz aus, wir gehören alle zu diesem Land, wir alle zusammen.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Engagement.

Alter und Migration