Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Wanderfreunde

Seit zwei Wochen ist in unserer Hauptstadt ein buntes Treiben zu beobachten. Neben Rot und Weiss hat vor allem auch Orange zu den dominierenden Farben gehört. Fussballfans aus ganz Europa haben sich während der EURO 08 in der Stadt versammelt, um spannende Matches zu verfolgen, für ihre Mannschaften zu fiebern und - um es etwas moderner auszudrücken - zu "fanen". Kurz, um gemeinsam zu feiern.

Akustisch drang das festliche Treiben hinein bis in mein Büro. Auch bei geschlossenem Fenster. Und ich darf Ihnen verraten, dass gerade bei schönem Wetter die Verlockung gross war, sich einfach unter die Menschen zu mischen.

Sie können sich sicher vorstellen, wie gross der Kontrast zwischen den vergangenen Wochen in Bern und dem heutigen Anlass hier in den Bündner Bergen ist. Ein Kontrast, den ich geniesse.

Ich freue mich sehr, gemeinsam mit Ihnen, liebe Anwesende, heute den Weitwanderweg Via Sett und die 45. Sommersaison Savognin eröffnen zu dürfen. Ich bedanke mich bei den Veranstaltern ganz herzlich für die Einladung. Herzlich danken möchte ich auch all jenen, die an diesem Projekt mitgearbeitet und zu dessen Realisierung beigetragen haben.

Von meinem Büro in Bern habe ich zwar auch einen wunderbaren Blick auf die Alpen, aber wirklich heimisch - die Berner mögen mir das verzeihen - fühle ich mich natürlich hier in den Bündner Bergen. Sie strahlen für mich eine unvergleichliche Kraft aus. Sie ruhen erhaben und majestätisch, können aber auch wild und unberechenbar sein.

Bereits als Kind war ich fasziniert von dieser Bergwelt. Ich habe sie immer gerne bewandert und tue dies auch noch heute. Leider ist die Zeit dazu im Moment etwas knapp. Umso mehr habe ich mich über die Einladung zu diesem Anlass gefreut.

Schon bei einem flüchtigen Blick auf die topographische Karte Europas sticht einem der tausend Kilometer lange Alpenbogen ins Auge. Er durchzieht unseren Kontinent und präsentiert sich als nahezu unüberwindbare Barriere zwischen Nord und Süd. Aber bereits lange vor unserer Zeitrechnung haben Menschen an verschiedensten Stellen den Alpenkamm überschritten. So auch im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden.

Der Septimerpass war schon in der Römerzeit einer der wichtigsten Alpenübergänge. Später bildete der Besitz der gesamten Septimerroute von Chur bis Chiavenna die Machtbasis des Churer Bischofs - einschliesslich der damit verbundenen Zolleinnahmen, versteht sich.

Im Laufe der Jahrhunderte zogen Händler und Heere, ja sogar Könige und Kaiser über den Pass. Wenn sie den Weg beschreiten, wandern sie unter anderem auf den Spuren von Otto dem Grossen, der im Jahre 936 zum Deutschen König gekrönt worden ist. Auch der staufische Kaiser Friedrich Barbarossa soll im 12. Jahrhundert den Septimerpass überschritten haben.

Neben der historischen Bedeutung hat der Wanderweg der Via Sett für mich aber vor allem auch eine symbolische Bedeutung. Als internationaler Weitwanderweg verbindet er zwei Länder, drei Sprachregionen und drei Kulturen miteinander.

Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie wandern, ausgerüstet mit währschaften Bündner Spezialitäten im Rucksack, in Thusis los. Nach einem guten Stück des Weges werden Sie in Savognin bereits mit "Seias bagnnia viandant!" willkommen geheissen. Und nach der Überquerung des Septimerpasses kommen Sie schliesslich im italienischen Chiavenna an, wo Sie in einem Crotti ein Glas Chianti geniessen können.

Wandern verbindet; in diesem Fall also die Schweiz und Italien, die Regionen Surses, Bergell und Chiavenna. Und somit auch Menschen deutscher, rätoromanischer und italienischer Muttersprache. Es freut mich ganz besonders, dass Vertreter all dieser Regionen, Kultur- und Sprachgruppen heute hier anwesend sind.

Es ist wichtig und richtig, die eigene Kultur, die Tradition und die Sprache zu pflegen und zu bewahren. Denn darin liegen unsere Wurzeln. Es ist aber auch wichtig und richtig, offen zu sein für Anderes. Neugierig zu sein, auf andere Menschen, andere Kulturen, andere Sprachen. Denn solche Erfahrungen bereichern unser Leben in vielfacher und wertvoller Weise.

Neugier ist eine Eigenschaft, die zweifellos auch demjenigen eigen ist, der sich zum Wandern aufmacht. Wanderer wollen die Landschaft erkunden. Sie wollen wissen, was sich hinter dem nächsten Berg befindet. Sie beobachten, wie sich die Vegetation mit zunehmender Höhe verändert. Und nicht selten schweift ihr Blick durchs Gelände in der
Hoffnung, ein Murmeltier oder einen Steinbock zu erspähen.

Neugier ist ein Antrieb, um voranzukommen. Nicht nur auf Wanderwegen, sondern auch im Leben. Schon Albert Einstein hat von sich gesagt: "Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig".

Ich hoffe, liebe Anwesende, dass Ihre Neugier auf die Welt nach wie vor gross ist. Und wenn Sie neue, spannende Entdeckungen in Wanderschuhen machen möchten, bietet sich jetzt die Via Sett als wunderbare Möglichkeit an.

Beim Wandern erwarten Sie Naturschönheiten: Gebirge, Seen und Flüsse sowie vielerorts eine nach wie vor intakte Fauna und Flora. Das mag zwar wie die Werbung in einem Ferienprospekt klingen, entspricht aber den Tatsachen. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Wandern verbindet also auch den Menschen mit der Natur.

Wandern kann aber auch Epochen verbinden. Oft sind Wanderwege nämlich auf alte Verkehrswege zurückzuführen, die mit historischen Gebäuden und Bauwerken gesäumt sind. Es handelt sich dabei um Zeitzeugen einer lebendigen kulturellen Vergangenheit.

Es kann durchaus sein, dass Sie auf einer Wanderung entlang der Via Sett auf Reste eines römischen Schleuderbeiles treffen. Solche wurden nämlich auf der Passhöhe gefunden. Falls Asterix und Obelix bei ihrem Besuch in Helvetien auch diesen Pass überschritten haben, wäre gar nach Hinkelsteinen Ausschau zu halten. Reste des Zaubertranks dürften sich aber nicht erhalten haben.

Wandern verbindet natürlich auch die Wandernden selbst. Es darf schon fast als Luxus bezeichnet werden, wenn man sich der Schnelligkeit und Schnell-Lebigkeit unseres Alltags für eine Weile entziehen kann. Und sich stattdessen per pedes in stetem, aber gemütlichem Tempo fortbewegt. Man hat Zeit. Zeit, sich zu unterhalten. Zeit, nachzudenken. Zeit, die wunderbare Landschaft zu geniessen. Zeit, bei sich selbst zu sein.

Auf der Wanderung entlang der Via Sett werden Sie beispielsweise auch nahe an der europäischen Wasserscheide, dem so genannten Dreigewässerpunkt, vorbeikommen. Da entscheidet sich, ob ein Wassertropfen ins Mittelmeer, in die Nordsee oder ins Schwarze Meer fliesst. Ich bin jedes Mal aufs Neue von dieser Vorstellung fasziniert. Man kann
angesichts dieser Idee ins Philosophieren geraten, über Schicksal und Zufall nachdenken. Und auch dafür haben Sie während einer Wanderung Zeit.

Drei Sprachen, drei unterschiedliche Kulturen sowie einzigartige Landschaften warten darauf, entdeckt zu werden.

In diesem Sinn, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Wanderfreunde, tun Sie den ersten Schritt, aber auch den zweiten und dritten. Es lohnt sich, bestimmt!