Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben mich heute zur Christmas Lecture der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie eingeladen. Bei einer Christmas Lecture werden eigentlich Weihnachtsmärchen vorgelesen. Nun, von Märchenerzählern unter den Politikern haben Sie wohl alle genug. Und als Bundesrätin muss ich mich allein aus verfassungsmässigen Gründen an Fakten halten und darf Ihnen keine Märchen erzählen.

Und trotzdem würde es uns allen zwischendurch gut anstehen, in ein Märchen hineinzuhören. Es sind nämlich mehr als die wundersamen Worte, die verzaubernden Wesen oder die mystischen Handlungen, die uns fesseln.

Es sind die Analogien, die jeder Einzelne von uns - auch Sie hier im Saal - daraus ziehen; die Schlüsse für unser Leben. Nehmen Sie sich die Zeit, und hören Sie einem Märchenerzähler - oder heute einer Märchenerzählerin - genau zu. Ich bin sicher: Sie werden Werte wie Respekt, Vertrauen und Anteilnahme neu entdecken können. Denn diese Welt existiert nicht nur in den Köpfen der Märchenerzähler.

Meine Damen und Herren, Sie alle kennen das traurige Märchen von Hans Christian Andersen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Niemandem fiel das frierende Mädchen auf, das an einem Silvesterabend seine Schwefelhölzer verkaufen wollte. Es stand nicht PR-gestylt und nach neusten Event-Markting-Erkenntnissen geschult in einem schönen Verkaufspalast. Niemand hatte das Mädchen zur Kenntnis genommen. Das ist fehlender Respekt.

Niemand traute sich, dem Mädchen Schwefelhölzer abzukaufen; selbst dann nicht, als es eines nach dem anderen anzündete, um selber etwas Wärme zu haben. Das ist fehlendes Vertrauen.

Niemand half dem Mädchen in seiner Not.

Das ist fehlende Anteilnahme.

Jetzt denken Sie sich alle, welches alte Märchen will uns da die junge Bundesrätin auftischen? Es geht mir nicht um diese Erzählung von Hans Christian Andersen; es geht mir darum, was hinter dieser Geschichte steckt. Es geht um Respekt, um Vertrauen und um Anteilnahme gegenüber unseren Mitmenschen.

Es geht um ethisches Verhalten!

Was heisst ethisches Verhalten für die Politik und die Wirtschaft? Ist Wachstum etwa unethisch? Im Gegenteil: Steigender Wohlstand festigt demokratische Werte wie Toleranz, Fairness und Barmherzigkeit. Eine Gesellschaft, die materielle Fortschritte erreicht, das hält der Harvard-Professor Benjamin Friedman (The Moral Consequences of Economic Growth) fest, wird auch auf anderen Gebieten Fortschritte machen. Wirtschaftliche Stagnation umgekehrt, führt zu harten Verteilkämpfen und Rückschritt - zu Ich-bezogenem Verhalten. Wirtschaftswachstum und Ethik schliessen sich daher nicht aus; im Gegenteil, sie ergänzen sich. Es ist alles zu unternehmen, dass es nicht zu steigenden wirtschaftlichen Ungleichheiten kommt. Deshalb müssen wir mit unserer Wirtschaftspolitik höhere Wachstumsraten anstreben. Deshalb, so Friedman, ist eine reine „Laisser-faire"-Politik aus moralischen Gründen abzulehnen.

Während Jahren wurde das Credo von einem Wirtschaftssystem ohne ethische Werte gepredigt. Freier Markt, freies Unternehmertum - möglichst ohne staatliche Begleitungen und Regeln. In den 80er-Jahren warb eine Partei mit dem Slogan: „Freie Fahrt für freie Bürger!" Und heute blocht eine andere Partei mit einer ähnlichen Philosophie durch die Polit-Landschaft. Der Staat, so das Credo, soll auf einen Rumpfstaat reduziert werden.

Alles ist Privatsache und untersteht der Eigenverantwortung.

Was aber passiert mit denen, die diese Verantwortung nicht übernehmen können?
Was passiert mit denen, die mit der Freiheit nicht umzugehen wissen?

Von solchem Denken müssen wir uns verabschieden. Heute wird offensichtlich, dass wir den Markt politisch begleiten müssen. Nur so kann er möglichst frei und für alle gleich wirken. Denn der Markt kennt keine Mechanismen, die automatisch zur Aufrechterhaltung von Fairness, Respekt, Gerechtigkeit und sozialer Verantwortung führen. Wir brauchen die Ethik als Leitplanke um den Spielraum des Marktes zu definieren. Ist dieser zu eng, unterbinden wir jede Entwicklung.

Ist er zu weit, droht die Gefahr von Raubritterkapitalismus. Das zu definieren ist Aufgabe der Politik!

Wenn eine liberal-soziale Wirtschaftsordnung Chancen für alle bieten soll, dann ist eine normative Verankerung der wirtschaftlichen Ordnung und des unternehmerischen Handelns nötig. Letzteres ist vom Unternehmen selber umzusetzen, insbesondere von den verantwortlichen Führungskräften. Wenn die Globalisierung zur weltweiten Anhebung des Wohlstandsniveaus führen soll, dann müssen wir uns alle an gewisse Grundsätze halten.

Hier ist die Wirtschaftspolitik gefordert; insbesondere bei den Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO) oder bei der UNO. Dort müssen wir Standards festlegen; allgemein verbindliche, ethische Mindestregeln für alle globalen Players.

Das gilt für die Wirtschaft, aber auch die Politik und die Wissenschaft.

Wenn wir nicht respektvoll handeln, wenn wir Vertrauen nicht zulassen und kein Verständnis für andere Ansichten aufbringen, dann handeln wir nicht ethisch, dann handeln wir nicht nachhaltig und wir handeln auch nicht nach unseren Grundwerten.

Deshalb ist es wichtig, dass wir die Ethik im geschäftlichen Tun und Lassen einbeziehen.
Deshalb ist es dringend, dass wir die Nachhaltigkeit im politischen Handeln bedenken.
Deshalb ist es bedeutungsvoll, dass die Bildung und die Wissenschaft die Werte vermitteln.

Die Ethik, so sagte schon Aristoteles, stellt die Kriterien für gutes oder schlechtes Handeln auf. Ethik soll dem Menschen in einer immer unüberschaubarer werdenden Welt Richtschnur sein für seine Entscheidungen.

Gutes zu tun, meine Damen und Herren, ist nicht auf das Hier und Jetzt beschränkt - auch nicht auf die Weihnachtszeit. Sich über ethisches Verhalten zu unterhalten, hat auch nicht mit der Christmas Lecture zu tun. Ethik ist absolut kein Luxus, den wir uns nur in den fetten Jahren leisten können. Wir, Sie als Aerztinnen und Aerzte, als Spital- und Klinikdirektoren, als Pflegerinnen und Pfleger, ich als Politikerin und auch die Manager in den Unternehmen, wir alle sind jeden Tag auf's Neue gefordert.

Beim wirtschaftlichen Wettbewerb geht es nicht nur darum, dass die Einen auf Kosten der Anderen materiellen Gewinn scheffeln können. Darum geht es auch nicht bei der Globalisierung; selbst wenn Einige meinen, diese sei für sie ein „Sesam-öffne-Dich".

Wir wollen einen Wettbewerb, aus dem alle einen Nutzen ziehen können und bei dem niemand zwischen Stuhl und Bank fällt. Schon Adam Smith sagte, dass durch Arbeitsteilung die Produktivität und damit der Wohlstand der Gesellschaft gesteigert werden kann. Von Ausbeutung sprach er nicht. Er meinte die generelle Beseitigung sozialer Unterschiede. Das aber lässt sich nur mit gegenseitigem Respekt, Vertrauen und Anteilnahme bewerkstelligen.

Wir gewinnen nicht, wenn wir nach dem Prinzip von „Wie-Du-mir-so-ich-Dir" vorgehen. Wir gewinnen nur, wenn wir dem Ratschlag von Jesus (Lukas 6.31) folgen: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen."

Sie wissen: Ich erwarte offene Grenzen und eine liberale, soziale Wirtschaftsordnung. Ich bin aber auch bereit, für andere die Grenzen zu öffnen und andere an dieser Freiheit teilhaben zu lassen. Das mag da und dort weh tun. Aber es ist der einzige Weg zu Wachstum. Und Wachstum wiederum ist der einzige Weg, um sozial handeln zu können - über die Sozialwerke und für die Unterstützung der benachteiligter Regionen - in der Schweiz und in der Welt.

Als Politiker sind wir aber nicht nur gefordert, mit einer nachhaltigen Gesetzesarbeit für gleich lange Spiesse in Wirtschaft und Gesellschaft zu sorgen. Wir sind auch gefordert, vermehrt auf die Werte von Humanität, Freiheit, Verantwortungsbewusstsein und Nächstenliebe zu pochen.

Das ist keineswegs der rührselige Aufruf einer C-Politikerin. Das sind die Grundlagen, auf denen wir unser Zusammenleben aufbauen und gestalten müssen.

Heute stelle ich leider eine Art der Un-Kultur fest.

Es darf doch nicht sein, dass Menschen auf offener Strasse grundlos misshandelt werden und die Gesellschaft schaut weg.
Es darf doch nicht sein, dass Kinder anderen Kindern auf dem Schulhof Gewalt antun - einfach so.

Ich predige hier nicht eine Kultur des „Rühr-mich-nicht-an". Auch ich kann austeilen und einstecken. Auch ich bin für harte Auseinandersetzungen; solange sie in der Sache hart, im Ton jedoch fair, menschenwürdig und anständig sind. Das ist leider heute nicht mehr alltäglich. Viele merken heute nicht mehr, wann genug ist und wo die rücksichtslose Erniedrigung beginnt.

In der politischen Auseinandersetzung ernten wir das, was gewisse Kreise in den vergangenen Jahren bewusst gesät haben.

Sie haben Grenzen überschritten, um leichter ans Ziel zu kommen.
Sie wollen einen materialistischen Staat, in dem ideelle Werte keinen Platz mehr haben.

Vielfach erleben wir heute den Kampf von Ideologien. Aus ideologischen Gründen werden Lösungen für politische Probleme blockiert.

Probleme, die man mit Respekt und gegenseitigem Vertrauen leicht lösen und so die Zukunft aktiv gestalten könnte. Grabenkämpfe, wie sie heute stattfinden, sind nur nervenaufreibend und tragen selten zur Beseitigung von Schwierigkeiten bei.

Ich setze mich deshalb für eine Werte-Gesellschaft ein, in der nicht nur der Lauteste Erfolg hat, in der nicht nur der Coolste, der Stärkste respektiert wird. Ich setze auf eine Gesellschaft, in der alle eine Chance zum Leben haben, in der die Menschen einander mit Respekt, Vertrauen und Anteilnahme begegnen.

Ich betone noch einmal: Ich verlange von niemandem, dass er seinen eigenen Standpunkt aufgibt. Wenn wir uns aber respekt- und vertrauensvoll mit der anderen Meinung auseinandersetzen, dann finden wir immer einen gangbaren Weg in die Zukunft. Einen Weg, den alle gehen können. Dieser Weg ist manchmal mühsam, weil man oft auf Umwegen zusammenfinden muss. Aber es lohnt sich, ihn zu gehen. Die Erfolgsgeschichte der Schweiz ist beispielhaft dafür.

Und hier sind wir in der Pflicht. Auch wir müssen mit einer nachhaltigen Politik, einer voraus denkenden Wirtschafts- und Sozialpolitik unsere Schweiz so gestalten, dass unsere Nachkommen auch in 20 oder 50 Jahren eine lebenswerte Gesellschaft und eine intakte Umwelt vorfinden.

Meine Damen und Herren, Sie alle kennen den Ausgang der Geschichte von Hans Christian Andersen. Am Neujahrsmorgen sitzt das Mädchen mit den Schwefelhölzern im Winkel am Haus - es erfror am letzten Abend des alten Jahres.

So muss, so darf unsere Gesellschaft nicht enden. Die Gemeinschaft darf nicht in einer Eiszeit erstarren. Wir müssen alles tun, damit alle Mitmenschen bei uns eine Zukunft haben.

Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen;

für die Ausbildung der jungen Menschen,
für die Entfaltung der Arbeitnehmenden und
für die Entwicklung der Unternehmer.

Wir wollen dies in gegenseitigem Respekt tun, im Vertrauen darauf, dass auch andere guten Willens sind, und mit der Anteilnahme am Schicksal des Einzelnen. Wenn wir uns so verhalten, wird eine andere Weihnachtsgeschichte wahr werden.

Jene vom kleinen hässlichen Tannenbäumlein, das niemand kaufen wollte. Sie kennen das Märchen:

Die exklusive Nordmanntanne ging an die reiche Frau im teuren Pelz. Die schöne grosse Weisstanne kaufte eine Mutter, damit sie die vielen Geschenke unter den Baum legen konnte. Die erstbeste Rottanne nahm der gestresste Singel, damit er wenigstens etwas Grünes zur Weihnachtszeit zu Hause hatte. Aber das kleine, krumme Bäumchen blieb stehen und sah sich schon im Ofen der städtischen Müllverbrennung.

Wäre da nicht der Müllmann gewesen, der, auf dem Nachhauseweg, einer armen Familie begegnete, die keinen Weihnachtsbaum kaufen konnte.

Er hatte Respekt vor der Familie und nahm an deren Schicksal teil. Und er hatte Vertrauen in das krumme Bäumchen. Das Resultat: Die Familie erlebte die schönste Weihnachtsfeier mit dem schönsten Christbaum seit je.

Die Moral von dieser Geschichte:

Wenn wir mit Respekt vor dem Anderen durch die Welt gehen, dann sehen wir auch jene, die nicht laut ins Scheinwerferlicht drängen.
Wenn wir Vertrauen haben, dann findet sich immer eine Lösung, die allen dient.
Wenn wir Anteil am Schicksal unserer Mitmenschen nehmen, dann geht die Rechnung für alle auf.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und Ihren Angehörigen frohe und besinnliche Festtage, viel Respekt, Vertrauen und Anteilnahme.

Ethik in der Politik – mehr als nur eine Weihnachtsgeschichte