Vernissage der Wanderausstellung "VERSORGT. VERDINGT. VERGESSEN?"
Lausanne, 30.10.2025 — Rede von Bundesrat Beat Jans
Es gilt das gesprochene Wort
Monsieur le Syndic, Grégoire Junod,
Madame la Conseillère d’État, Nuria Gorrite,
Monsieur Golay, Directeur du Musée Historique Lausanne,
Chers invités,
Chers visiteurs,
Madame Schenker,
Chers témoins de ce chapitre sombre de l’histoire de notre pays,
Je vois beaucoup de visages connus dans l’assistance. J’en suis très heureux.
J’ai fait connaissance avec certains d’entre vous l’été dernier lors de la fête organisée par la Fondation Guido Fluri. Avec d’autres, lors de la fête organisée pour la clôture du programme national de recherche « Assistance et coercition ».
Heute begegnen wir uns wieder zur Vernissage der Wanderausstellung «Versorgt, verdingt, vergessen? Geschichte(n) von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz».
Das ist für mich eine grosse Ehre. Weil ich diese Ausstellung im Historischen Museum Lausanne eröffnen darf – gemeinsam mit Ihnen.
Und es ist eine grosse Verantwortung. Weil es nicht selbstverständlich ist, dass wir heute gemeinsam hier sind.
Viele von Ihnen haben Behörden und Institutionen als Feinde kennengelernt und – völlig zu Recht – jedes Vertrauen in sie verloren. Der damalige Staat, die damaligen Behörden und die Gesellschaft haben versagt. Sie haben ausgegrenzt und weggeschaut. Dass es nun diese Wanderausstellung gibt und wir sie gemeinsam eröffnen können, zeugt von Kraft und Mut.
Hunderttausende Kinder und Erwachsene waren bis 1981 von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen. Sie wurden in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht, in der Landwirtschaft verdingt, in Anstalten versorgt.
Viele von ihnen haben darunter schwer gelitten. Sie wurden körperlich und seelisch misshandelt, ausgebeutet, sexuell missbraucht. Der Staat hat ihnen grundlegendste Rechte verwehrt. Ihnen wurde die Freiheit genommen, ein Leben nach den eigenen Möglichkeiten und Vorstellungen zu leben. Weil sie arm waren, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Oder weil ihre Eltern arm waren, nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen.
Das Ausmass dieses Leids bewegt mich immer wieder tief.
Heute ist dieses Unrecht offiziell anerkannt. Der Bundesrat hat sich entschuldig.
Viele haben dazu einen Beitrag geleistet:
Allen voran Sie, die Betroffenen, mit Ihrem mutigen und beharrlichen Engagement. Ich könnte jetzt viele Namen nennen, aber ich möchte hier niemanden bevorzugen.
Forschende, Medien und Kulturschaffende, welche zur weiteren Sensibilisierung der Öffentlichkeit beigetragen haben.
Die Arbeiten der Unabhängigen Expertenkommission. Und schliesslich das Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft». Es umfasste 29 Projekte und schaffte eine umfassende Bestandesaufnahme.
Dank der Wiedergutmachungsinitiative und dem Gegenvorschlag des Parlaments wurde die Aufarbeitung auch in ein Gesetz gegossen. Betroffene erhalten einen Solidaritätsbeitrag. Vor allem aber hat der politische Prozess viel dazu beigetragen, dass das Unrecht heute gesellschaftlich breit anerkannt ist.
Für mich als Justizminister ist die Initiative ein schönes Beispiel, wie unsere direkte Demokratie zu einer Versöhnung mit dem Rechtsstaat beitragen kann.
Das Spannungsfeld von Fürsorge und Zwang, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, besteht aber auch heute noch. Umso wichtiger ist es, dass sich die Aufarbeitung nicht nur auf die Vergangenheit konzentriert, sondern auch in die Zukunft blickt.
Die Erkenntnisse und Empfehlungen der Forschung dienen uns heute als Grundlage für politische und gesellschaftliche Veränderungen. Denn die Aufarbeitung hat auch gezeigt: Zwangsmassnahmen wirken nach. Auch die zweite Generation leidet unter den Traumata der administrativ Versorgten und Verdingten.
Geschätzte Betroffene
Lange waren Ihre persönlichen Lebensgeschichten in Ihren Seelen verschüttet. Erst als die ersten von Ihnen den Mut gefunden haben, ihren Schmerz zu teilen, hat sich das Bewusstsein in der Gesellschaft verändert. Damit haben Sie eine Aufarbeitung überhaupt erst möglich gemacht. Und zusammen mit dem Europarat auch andere Länder inspiriert, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Die Ausstellung, die wir heute gemeinsam eröffnen, lebt deshalb stark von den Stimmen der Betroffenen – von Ihren Stimmen. Sie erzählen Ihre Geschichte, in den «Archiven wider das Vergessen»: Hunderte Schubladen stehen in der Ausstellung stellvertretend für die hunderttausenden Kinder und Erwachsenen, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren.
Einige Schubladen sind geöffnet und geben anhand von Steckbriefen Einblicke in die Lebensgeschichten von Betroffenen. Einzelne Biografien werden an Archivtischen ausführlicher nachgezeichnet. Und eine Stimme werden wir heute Abend auch hören, jene von Nelly Schenker. Sie wird nach mir sprechen, als Zeitzeugin.
Es ist die Kraft der persönlichen Geschichten, die diese Ausstellung ausmacht. Indem Sie erzählen, fordern Sie uns auf, zuzuhören, zu verstehen und Verantwortung zu übernehmen. Für eine kollektive Erinnerung an so viele dunkle Stunden im eigenen Leben zurückzudenken – ich kann nur erahnen, wie schwierig das sein muss. Sie haben ihre Stimme auch all jenen gegeben, die heute leider nicht mehr hier sein können. Und jenen, für die der Schmerz zu gross ist.
Mesdames et Messieurs,
Cette exposition fait partie intégrante du programme « Se souvenir pour l’avenir » mis en œuvre par l’Office fédéral de la justice. Toutes les connaissances qui ont été collectées sur les mesures de coercition à des fins d’assistance doivent enrichir notre savoir collectif. C’est dans cet objectif que nous avons aussi créé une plateforme web abondamment documentée et du matériel didactique pour les écoles et les centres de formation.
Cette exposition itinérante est conçue comme un parcours multidimensionnel à travers des événements sombres et douloureux. Cette approche permet aux classes et aux élèves également d’appréhender et de comprendre les mesures de coercition à des fins d’assistance. Cette exposition est non seulement une invitation à la réflexion et au dialogue, mais elle nous incite aussi à agir.
Elle soulève des questions que nous devons tous nous poser :
- Quelles conséquences le passé a-t-il encore aujourd’hui sur la vie des personnes concernées ?
- Les injustices peuvent-elles être réparées ?
- Que pouvons-nous faire, en tant que société, pour que l’histoire ne se répète pas ?
Die Aufarbeitung ist nicht nur Aufgabe des Bundes oder einzelner Institutionen. Sie betrifft uns alle – Kantone, Gemeinden, Fachorganisationen, private Einrichtungen, jede und jeden Einzelnen. Wir tragen gemeinsam Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen und die Würde und Rechte aller Menschen zu schützen.
Bereits wurden wichtige Weichen gestellt, etwa mit der Neuordnung des Kindes- und Erwachsenenschutzes. Aber die Weiterentwicklung der Rechtsgrundlagen und des Rechtsstaates bleiben Daueraufgaben. Ebenso, die heutige Praxis im Sozialwesen und beim Schutz von Kindern und Erwachsenen immer kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen.
Meine Damen und Herren
Aufarbeitung ist ein Prozess, der nie vollständig abgeschlossen ist. Anders als Reden von Bundesräten, bei denen das Ende nicht selten sogar herbeigesehnt wird…
Ich möchte die verbleibende Zeit nutzen, um Danke zu sagen:
Allen Betroffenen, für ihren Mut, ihre Offenheit und ihr hartnäckiges Engagement: Ohne Sie wären die Aufarbeitung und diese Ausstellung nicht möglich gewesen.
Den Forschenden, für die umfassende und sorgfältige wissenschaftliche Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte. Sie haben dazu beigetragen, Licht ins Dunkel zu bringen. Und sie haben wichtige Grundlagen für die Vermittlung und diese Wanderausstellung geschaffen.
Den Macherinnen und Machern der Ausstellung, für ihren Beitrag zu einer lebendigen und kritischen Auseinandersetzung mit unserer Geschichte.
Allen beteiligten Museen und Institutionen, insbesondere der heutigen Gastgeberin, dem Musée historique de Lausanne und der Stadt Lausanne.
Dem Bundesamt für Justiz, das mit dem Programm «erinnern für morgen» und der Lancierung dieser Ausstellung dazu beiträgt, dass wir die bisherige Aufarbeitung und unsere Rolle als Staat und als Behörden kritisch reflektieren können.
Und schliesslich danke ich Ihnen allen, liebe Anwesende. Dafür, dass Sie heute hier sind und damit ein Zeichen setzen. Für das gemeinsame Erinnern, für Anerkennung und für eine menschliche Gesellschaft.
Wir können das Leid und Unrecht nicht ungeschehen machen. Aber wir können es sichtbar machen und anerkennen. Und wir können – müssen! – dafür sorgen, dass es nie wieder passiert.
Diese Ausstellung leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Herzlichen Dank!