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Sehr geehrte Damen und Herren

Ich habe mich auf den heutigen Tag schon seit einiger Zeit gefreut. Wir haben heute einen Tag lang Zeit, unter ausgewiesenen Fachleuten Fragen zu diskutieren, die uns alle betreffen - das ist eine ausgezeichnete Ausgangslage für kritische, kontroverse und kreative Gespräche.

Ein Wort zu meiner Teilnahme an dieser Tagung:
Ich bin heute nicht hier, um Ihnen meine Positionen zu erläutern.

Ich bin heute v.a. hier, um zuzuhören, um aufzunehmen und aufzusaugen, was Sie sagen.
Ich hielte es für geradezu absurd, derart bedeutende und umstrittene gesellschaftspolitische Fragen sozusagen im stillen Kämmerlein zu entscheiden. Was wir brauchen ist eine breite, offene Diskussion und Meinungsbildung. Der heutige Tag soll dazu einen wichtigen Beitrag dazu leisten.

Ausgangspunkt unserer Tagung ist ein Postulat von Frau Nationalrätin Jacqueline Fehr: Der Bundesrat soll in einem Bericht aufzeigen, wie das schweizerische Familienrecht modernisiert werden soll. Dabei sollen die Ideen breit diskutiert werden.

Im Vorfeld der Tagung hat das Bundesamt für Justiz drei Gutachten in Auftrag gegeben, die Anfang April publiziert wurden:

Das erste Gutachten vom Schweizerischen Institut für Rechtsvergleichung in Lausanne zeigt die aktuellen Entwicklungen auf in Staaten mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur wie der unsrigen.

Ein zweites Gutachten wurde bei Frau Professor Ingeborg Schwenzer von der Universität Basel eingefordert, mit der einzigen Vorgabe, ihre Vorstellungen eines modernen Familienrechts in völliger wissenschaftlicher Freiheit zu skizzieren. Ihr Bericht, wir wissen es, wurde bereits intensiv diskutiert - bedauerlicherweise insbesondere anfangs auch von einigen Personen, die den Bericht offensichtlich nicht einmal ansatzweise gelesen hatten.
Im dritten Gutachten sollte Professor Ivo Schwander von der Universität St. Gallen darlegen, wie die Schweiz im internationalen Umfeld ihr Rechtskleid modernisieren könnte. Auch er hatte keinerlei weitere Vorgaben.

Sie, meine Damen und Herren, wissen es: Bei diesen Gutachten handelt es sich nicht um Gesetze, sondern - eben - um Gutachten. Gerne bedanke ich mich hiermit auch bei den Verfasser/-innen für Ihre wertvolle Grundlagenarbeit.

Meine Damen und Herren - viele Menschen in diesem Land leben in Familienverhältnissen, wie es ihre Eltern und ihre Grosseltern getan hatten. Sie verlieben sich, sie heiraten und sie haben Kinder. Ihre Ehe bleibt intakt, und wenn der eine Ehegatte nach einem langen und erfüllten Leben stirbt, dann steht die Familie zusammen und die Erbfolge ist unproblematisch. - Manche Menschen leben tatsächlich so, und viele Menschen möchten vielleicht so leben, aber wir wissen es alle:

Oft kommt es dann doch ein bisschen anders, als man es sich vorgestellt hatte ... - Und dann gibt es ja auch noch Menschen, die keinesfalls so leben möchten.

Tatsache ist, dass die Formen des Zusammenlebens in der Schweiz vielfältiger sind als früher. Heute leben in der Schweiz deutlich mehr Personen, die nicht verheiratet sind als solche, die verheiratet sind. Die Verheirateten, meine Damen und Herren, sind heute in der Minderheit.

Ein Drittel aller Paare ohne Kinder leben ohne Trauschein zusammen.

Aber auch Kinder bedeuten nicht automatisch Eheschliessungen: Jedes elfte Paar mit gemeinsamen Kindern verzichtet auf die Ehe. Jedes fünfte Kind wird ausserhalb einer Ehe geboren. In über einer Viertelmillion Haushalten wohnen Alleinerziehende oder Patchwork-Familien.

Als das ZGB geschaffen wurde, war eine Scheidung ein unerhörtes Ereignis und galt als Unglück. Seit den 60er Jahren haben die Scheidungszahlen massiv zugenommen. Sie lagen vor vier Jahren bei über 50%. Scheidungen bedeuten oft grosses Leid - sie führen aber auch zu neuen Partnerschaften. Zweit- und Drittehen sind die Folge, häufig auch Partnerschaften ohne Eheschliessung.

Das sind die heutigen Realitäten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Die Frage, die sich der Gesetzgeber stellen muss, ist nicht, ob er das richtig oder falsch, gut oder schlecht findet, die Frage ist allein: ob unser ZGB diesen Realitäten noch gerecht wird.

Auch in anderen Belangen haben wir ja einen beträchtlichen Wandel erlebt. Vor 9 Jahren hat die Schweizer Bevölkerung die Vorlage über die eingetragene Partnerschaft mit 58% Ja-Stimmen angenommen. Homosexuelle Paare können heute eine rechtlich geordnete Verbindung eingehen, die in vielem, aber nicht in allem, der Ehe nachgebildet ist. Die gesellschaftliche Diskussion dreht sich hier um die Frage, ob Adoption und fortpflanzungsmedizinische Verfahren für eingetragene Partner nach wie vor ausgeschlossen bleiben oder ob man sie - zumindest für die Stiefkinder - zulassen soll.

Zwei weitere Aspekte: Wir müssen uns heute aufgrund der erhöhten Mobilität häufiger als früher mit rechtlichen Beziehungen auseinandersetzen, die im Ausland begründet worden sind. Das gilt für Beziehungen sowohl von Ausländer/-innen als auch von Schweizer/-innen. Denken wir z.B. an ein homosexuelles Schweizer Paar, das ein paar Jahre in Kalifornien lebt, dort ein Kind adoptiert und dann in die Schweiz zurückkehrt. Oder das Paar, das in Indien eine Leihmutter engagiert hat - bei uns ist die Leihmutterschaft verboten. Was sollen unsere Behörden in solchen Fällen tun?

Meine Damen und Herren, was verstehen wir denn unter einer liberalen Gesellschaftspolitik?

Die Familie gehört auch heute noch zweifellos zu den Grundpfeilern unserer Gesellschaft; entsprechend müssen wir ihr Sorge tragen. Und das tun wir auch. Aber wir müssen uns heute fragen, ob unsere rechtlichen Grundlagen die Realität noch abbilden, respektive wie wir die vielfältigen Familienformen in unser Recht integrieren können.

Als das ZGB erlassen wurde, gab es nur die Ehe. Konkubinate waren verboten, Homosexualität war strafbar, aussereheliche Kinder und ihre ledigen Mütter wurden stigmatisiert. Die Freiheit, die Form des Zusammenlebens nach eigenem Ermessen zu gestalten, ist eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte. Dieser Freiheit sollten wir Sorge tragen.

Die Rechtsordnung soll den Menschen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben.
Das Recht muss aber Antworten bereit halten für die Konflikte, die sich aus den neuen Realitäten ergeben. Und das Recht muss jene schützen, die den Schutz am meisten nötig haben. In erster Linie betrifft dies natürlich die Kinder. Für sie haben wir die beiden letzten Revisionen gemacht: die gemeinsame elterliche Sorge, die in wenigen Tagen in Kraft tritt, sowie die Unterhaltsvorlage, die letzte Woche im NR angenommen wurde.

Aber nicht nur Kinder sind schutzbedürftig. Auch erwachsene Personen können unter Umständen Schutz brauchen, wenn sich ihre Partnerschaft auflöst - sei es durch Tod oder Trennung . Hier müssen wir ansetzen und uns neue Wege überlegen - im Ausland gibt es bereits solche Modelle, ein Stichwort etwa wäre die solidarische Partnerschaft.

Meine Damen und Herren, das ZGB war zur Zeit seines Erlasses im Jahr 1907 ein höchst fortschrittliches und in gewissem Sinne auch fast revolutionäres Gesetz: Es war knapp und klar, es kam ohne Definitionen aus und es gab dem Gericht das Ermessen und die Pflicht, im Bedarfsfall wie ein Gesetzgeber zu handeln. Diese Errungenschaften wollen wir wahren und pflegen, auch und gerade mit Blick auf die Aufforderung, dass jeder und jede nach Treu und Glauben handeln muss. In etlichen Belangen, insbesondere, was die Kinder betrifft, haben wir in den letzten Jahren unsere rechtlichen Rahmenbedingungen erneuert und modernisiert - ich möchte, dass unser ZGB auch den zeitgenössischen Paarbeziehungen gerecht wird und den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt.

Avenir Familles!