(Ce contenu n'est pas disponible en français.)

Ich freue mich, heute am Zentralfest unseres Schweizerischen Studentenvereins die Festansprache zu halten. Diese Freude hat vor allem zwei Gründe:

Das Zentralfest ist einer der wenigen Anlässe, an denen ich nicht in erster Linie von Amtes wegen auftrete. Ich bin hier als überzeugte StVerin, als "Farbenschwester" mit Leib und Seele! Ich bin die Tochter eines StVers - der übrigens heute in den Kreis der Veteranen aufgenommen wird. Ich bin die Schwester eines StVers. Und ich bin mit einem eingefleischten StVer seit über 10 Jahren verheiratet.

Der zweite Grund zur Freude:

Der Anlass findet in Appenzell statt, meiner zweiten Heimat. Hier wurde ich in jun-gen Jahren politisiert; hier wurden mir erste politische Ämter anvertraut, bis hin zur Regierungsrätin.

Wir versammeln uns heute auf dem Landsgemeindeplatz, der für mich eine eindrückliche Schule der direkten Demokratie ist.

Ich danke herzlich allen Appenzellerinnen und Appenzellern für die freundschaftliche Aufnahme unseres Vereins.

Einmal mehr haben sie ihre Herzlichkeit und Offenheit gegenüber den Studentinnen und Studenten gezeigt. Dadurch erleben wir jene Bürgernähe, die die Existenzgrundlage unserer Verbindung bildet. Und dadurch wird eben unser Studentenfest zu einem Volksfest.

Warum sind wir hier?

Liebe StVerinnen und StVer, Warum sind wir eigentlich hier?

Gewiss, sich wieder sehen, Erinnerungen oder Erfahrungen austauschen, locker Kontakte knüpfen zwischen Jung und Alt und zwischen bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten unseres Vereins, das wäre bereits Grund genug, sich hier zu treffen.

Das ist Ausdruck der Amicitia, die in unserem Verein seit jeher und zu Recht gross geschrieben wird. Echte Freundschaft ist auch heute nicht hoch genug einzuschätzen.

Aber unser 161-jähriger Wahlspruch virtus, scientia, amicitia nennt - was bestimmt kein Zufall ist - an erster Stelle die Tugend. Virtus! Wirkt das auf uns heute nicht eher verstaubt und antiquiert?

Nein! Gerade die politische, ökonomische und soziale Realität unserer Gesellschaft zeigt, wie unerlässlich ethische Massstäbe sind. Und wie wichtig es wieder geworden ist, sich selber darauf zu besinnen, aber auch, sie weiterzuvermitteln!

Eine Gemeinschaft, die sich wie unser Verein an der christlichen Sozialethik orientiert, deren Mitglieder jetzt oder später in Familie, Gesellschaft, Betrieb und Staat Verantwortung tragen, eine solche Gemeinschaft leitet ihren Sinn davon ab, dass sie den selbst gesetzten Leitlinien Achtung verschafft. In erster Linie für die eigenen Mitglieder, aber auch darüber hinaus!

Ich erwarte vom Schweizerischen Studentenverein, dass er wieder mehr ist als nur ein Rückzugsgebiet von Gleichgesinnten. Wir haben eine Botschaft zu vermitteln: Tugend und Freundschaft.

Tugend und Freundschaft, virtus und amicitia, dürfen für uns dabei nicht moralisti-scher Heimatstil sein. Sondern sie sind Motoren für die Gegenwart und die Zukunft!

So ist für mich unsere Präsenz hier ein Bekenntnis - nicht für einen modischen Ethikopportunismus, wohl aber im Sinn unserer Satzungen, die formuliert wurden zu einer Zeit, als man Wert noch nicht mit Mehrwert verwechselte.

Natürlich stellt sich die Frage, ob es unseren Verein dazu überhaupt braucht.

Klammern wir uns mit Fahnen, Couleurs und Kommenten nicht an Äusserlichkeiten, die von gestern sind?
Sind wir schlagkräftig genug organisiert mit Strukturen, die sich seit der Gründung kaum geändert haben?

Das sind Fragen, die wir uns heute stellen müssen.

Natürlich lässt sich moralische Qualität auch sonst wie anstreben, individuell oder in anderen Gemeinschaften. Denn letztlich kommt es auf die Ziele und Inhalte an.

Aber das ist keine Absage an unsere Formen und Wege. Sichtbare Symbole stiften ja auch Identität, sie machen unsere Gesinnung überprüfbar.

Wer Farben trägt, der bekennt zugleich Farbe und gibt die - manchmal so bequeme - Anonymität auf. Er bekennt so die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die ihm am Herzen liegt.

Allerdings wurde im Zuge des Wertewandels Ende der Sechziger / anfangs der Siebziger Jahre mehr und mehr auf das Farbentragen in der Öffentlichkeit verzichtet. Vor allem an den Hochschulen und - wie in Zürich - auch im Tram.

Selbst Blockverbindungen waren gegen diesen Trend nicht gefeit. So zum Beispiel auch die Kyburger unter ihrem damaligen Burggrafen Emil Nisple v/o Dibi, dem OK-Präsidenten des heutigen Zentralfestes.

Farben tragen birgt andererseits auch die Gefahr, dass sie von Ausstenstehenden als Uniform erfasst wird.

Und manch einer lässt sich durch Couleur - in der grossen Schar der Farbentragen-den - zu Handlungen hinreissen, die er vielleicht in zivilier Kleidung nicht gemacht hätte.

Nehmen wir die Farben unserer Verbindungen als das, was sie sind: als Zeichen der Zugehörigkeit zum Gesamtverein und als Zeichen des Einstehens für die Ideale des StV.

Liebe StVerinnen und Stver! Ich fordere euch auf, euer Couleur bewusst zu tragen und dadurch eure - unsere Verbundenheit zum StV öffentlich zu manifestieren.

Aber nicht nur an der 1. August-Feier auf dem Rütli, wie der Bundesanwalt gestern in seiner Brandrede verlangt hat. Sondern vor allem in eurem Innern. Es sind die Werte, die Zählen!

Tragen wir unser Couleur in diesem Sinne das ganze Jahr!

Engagement in einer Zeit der Widersprüche

Wir leben in einer Zeit der Widersprüche, in einem Netz von Spannungen.

Reichtum und Armut, Glück und Elend, Opferbereitschaft und Egoismus prallen vor unseren Augen Tag für Tag stossend aufeinander - auch in der Schweiz.

Kommunikation ist der Schlüssel des Zusammenlebens. Aber all zu oft mündet sie in blossen Schlagabtausch. Was Gespräch sein sollte, verkommt zum Geschwätz - zum "Talk täglich".

Wir StVer gehören zu dieser Welt und können uns ihren Gegensätzen nicht entzie-hen. Wir können jedoch gegen sie antreten, auf ihre Überwindung hinwirken.

StVer sein heute heisst: Wir dürfen uns nicht selbstzufrieden zurücklehnen; denn Sicherheit dank Alarmanlagen ist nicht Sicherheit, wie ich sie verstehe. Reichsein unter Bedürftigen ist auf Dauer kein Genuss. Dem Gebildeten darf es nicht wohl sein unter Ungelernten.
StVer sein heute heisst aktiv eintreten für die Interessen unserer Gemeinschaft, unseres Landes. Unser Land ist kein fertiges Gebilde. Es ist eine patria semper reformanda; wer das übersieht, trägt bei zu Versteinerung und Abschottung.
Die Schweiz, die ich meine, ist offen und selbstbewusst, ohne Arroganz und Besserwisserei, dafür wahr- und ernst zu nehmen. Für diese Schweiz engagiere ich mich, für diese Schweiz soll auch der StV eintreten.
StVer sein heute heisst auch zur Kenntnis nehmen, wie brüchig das Vertrauen in Wirtschaft, Politik und Staat ist, wie sehr sich die Bürgerinnen und Bürger von den Institutionen entfremdet fühlen.
Das heisst aber auch gegen Mängel und Missstände aufstehen, jeder an seinem Platz. Und hier appelliere ich ganz konkret an diejenigen StVerinnen und StVer, die in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft eine tragende Rolle wahrnehmen. Denn wir rühmen uns ja zu Recht, dass wir solche Mitglieder unter uns haben.

Nehmen wir unsere im StV geschulte Verantwortung wahr und geben unseren Aktiven ein leuchtendes Beispiel. Denn sie sind die Verantwortlichen von morgen!

Denn wir brauchen auch in Zukunft verantwortungsbewusste Leute an der Spitze von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kirche.

Der neue Riesenkampf

Eine gerechte Gesellschaft in einem gerechten Staat, verantwortungsvolles Wirtschaften, Weltoffenheit und ethisches Verhalten: Die Herausforderungen von heute sind nicht weniger radikal als zur Gründerzeit unseres Vereins.

Der "Riesenkampf" ist nie zu Ende. Auch 161 Jahre nach der Gründung unseres Vereins - in einer entscheidenden Epoche zur Bildung unserer heutigen Schweiz - sind Hindernisse zu meistern und Ziele zu setzen:

Wir wollen uns für eine Schweiz einsetzen, die sich durch sozialen Ausgleich, durch Sicherheit, durch Integration von Minderheiten und Überwindung von ideellen Gegensätzen auszeichnet.
Wir wollen uns für unsere bewährte Art des politischen Dialogs einsetzen. Ein Dialog, der Lösungen finden will und nicht durch Intoleranz und Schmutzkampagnen pervertiert wird. Dies, meine Couleurfreundinnen und Couleurfreunde, beginnt damit, dass wir selber in unserem Umfeld solche Missstände schonungslos aufdecken und es besser machen.
Wir wollen uns für ein Wirtschaftssystem einsetzen, das liberal, aber verantwortungsvoll, bürgernah und transparent ist. Das bedeutet Ja zu Wettbewerb, aber auch Ja zur Mitverantwortung und Nein zu Gewinnmaximierung um jeden Preis. Wenn uns das misslingt, fördern wir den Notbremserstaat, in dem die Regierung nur noch zum Reparieren kommt.
Ich mache auch ein Fragezeichen zu den Medien. Nicht weil sie als kritische Begleiter von Staat und Gesellschaft in dunkle Winkel zünden, Fehler aufdecken und deutlich die Meinung sagen - das ist ihre Aufgabe. Bedenklich sind die Methoden: Immer öfter wird die Privatsphäre verletzt und gegen die Unschuldsvermutung verstossen; die seriöse Recherche muss der These weichen; Information wird bisweilen käuflich oder zur Desinformation. So verlieren Medien ihre Glaubwürdigkeit und gefährden nicht zuletzt sich selbst.

Moderne Gesellschaften - und wir sind so eine! - zeichnen sich durch Multikulturalität aus, durch hohe räumliche und geistige Mobilität. Gelebte Toleranz und Nächstenliebe ist wichtiger denn je.

Eine gerechte Gesellschaft in einem gerechten Staat, verantwortungsvolles Wirtschaften, Weltoffenheit und ethisches Verhalten: Warum gebe ich diesen Postulaten so viel Gewicht? Weil sie für uns, für unsere Gemeinschaft lebensnotwendig sind.

Der Umbruch von heute ist nicht minder radikal als zur Gründerzeit.

Und noch etwas: Überall wirken StVer massgebend mit. Sie können beweisen, dass unsere Devise keine Leerformeln ist.

An Begeisterung fehlt es ja nicht. Das zeigt schon das unbeschreibliche Gefühl, das in uns jeweils aufkommt, wenn wir am Schluss des Festgottesdienstes den "Riesenkampf" anstimmen - zwar oft zu hoch, aber aus tiefem Herzen.

Auch wenn uns der Pathos des 19. Jahrhunderts inzwischen möglicherweise etwas fremd geworden ist, dem Anspruch der Verse unseres Bundesliedes können wir uns trotzdem nicht entziehen: Tatkraft der Jugend, rastlos forschender Geist, Gerechtigkeit.

Der "Riesenkampf", den wir besingen, liebe StVerinnen und StVer, ist nicht passé. Im Gegenteil: Die Anforderungen von heute rufen nach weiterem Engagement.

Von uns hängt es ab.

Mit Absichten ist es freilich nicht getan. Wer nicht wahrgenommen wird, existiert nur halb. Es geht ihm wie dem Studenten, der im Seminar stumm auf gescheiten Gedanken sitzen bleibt und letztlich nichts bewegt.

Wir wollen bemerkt werden, nicht nur jährlich am Zentralfest oder an der Fronleichnamsprozession. Es darf nicht sein, dass eine Studentin im vierten Semester, wie ich kürzlich erfuhr, von uns nie etwas gehört hat. Wir brauchen doch die Öffentlichkeit nicht zu scheuen!

Jahr für Jahr bewundere ich beim Spitzengespräch mit den CC den Schwung, mit dem unsere Aktiven Ideen kreieren und Pläne entwerfen. Umso ernüchternder ist jeweils die Umsetzung: Die Macht des Faktischen - Überlastung, jährlicher Wechsel an der Vereinsspitze - steht der Realisierung grosser Würfe im Weg. Das darf nicht sein. Man sollte - und ich finde: man muss! - endlich den Mut haben, etwas dagegen zu tun!

Natürlich: Der StV ist ein anspruchvoller Verein, weil er hohe Ansprüche an sich selber stellt. Sie kollidieren mit den heutigen Ansprüchen ans Studium. (...) Studieren heute ist kein Vergleich mehr mit Studieren vor 160 Jahren. Aber unsere Führungsstrukturen sind immer noch weitestgehend dieselben!

Ich meine, dass sich der StV Gedanken machen muss, wie er seine Führung in der Zukunft sieht. Ist das heutige System mit jährlichem Wechsel der Führung tatsächlich noch passend und den heutigen Anforderungen entsprechend?

Liebe Couleurbrüder und Couleurschwestern

Im eigenen Haus wie draussen vor der Tür warten gewaltige Aufgaben. Sie verlangen unsere Fantasie und unseren ganzen Mut. Wir haben etwas zu bieten und wollen einen Beitrag leisten.

Führen wir also den alten Auftrag mit neuem Elan weiter! Wagen wir den neuen Riesenkampf mit unserer Zeit!

Und singen wir nachher, zum Schluss der Veteranenehrung, mit berechtigter und innerer Überzeugung unser Bundeslied.

Der "Riesenkampf" geht weiter - Der Schweizerische Studentenverein darf nicht auf seinem Erfolg ausruhen