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1. Einleitung

"Zwischen Himmel und Erde - Horizonte an der Jahrtausendschwelle". Unter diesen anspruchsvollen Titel stellte die Schaffhauser Vertragsgemeinschaft den Vortragszyklus 1999/2000. Für unseren grossen Ballonpionier Bertrand Piccard war das natürlich ein sehr zutreffender Titel. Für mich als Politikerin ist es schon etwas schwieriger, unter diesem Programmtitel zu Ihnen zu sprechen. Zwar wird auch von Politikerinnen und Politikern gerne erwartet, dass sie möglichst kühne Visionen zum Besten geben. Andererseits wird von uns auch verlangt, dass wir mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und den Kopf nicht in den Wolken tragen. In Bezug auf die Visionen halte ich es übrigens wie Marcel Ospel, der letzthin sagte: "Visionen zu haben ist gut, realistische Szenarien aber nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen, ist besser."

Ich habe mich entschieden, Ihnen heute Abend einige Gedanken zu einem eher irdischen Thema darzulegen: zu den politischen Institutionen der Schweiz und ihrem Reformbedarf. Es gibt in diesem Bereich zur Zeit einige Projekte. Sie heissen: Staatsleitungsreform, Neuer Finanzausgleich, Volksrechtsreform, Umsetzung der Justizreform auf Gesetzesstufe. Für die meisten dieser Reformen ist mein Departement federführend. Ich möchte Ihnen zunächst darlegen, welche Bedingungen ich als entscheidend erachte, damit wir im Bereich der institutionellen Reformen vorankommen. In einem zweiten Teil werde ich dann auf einzelne der laufenden Reformvorhaben eingehen.

2. Aufgaben der politischen Institutionen

Unter den politischen Institutionen verstehen wir in der Regel jene Staatsorgane und -verfahren, die von der Verfassung dazu bestimmt sind, allgemeinverbindliche Entscheidungen herbeizuführen. Auf Bundesebene sind dies namentlich Volk und Stände, die Bundesversammlung, der Bundesrat und das Bundesgericht. Auch den Föderalismus zähle ich dazu.

Eine wichtige Aufgabe der politischen Institutionen besteht in der Verhinderung des Machtmissbrauchs. Unter dem Missbrauch der politischen Macht haben unzählige Menschen unsäglich viel gelitten und leiden heute noch. In unserem modernen Rechtsstaat sind der politischen Macht deshalb wirksame Grenzen gesetzt:

Die Macht ist auf verschiedene Gewalten aufgeteilt.
Die Behörden sind an das Gesetz gebunden.
Die Einzelnen erhalten durch die Grundrechte einen wirksamen Schutz, namentlich vor dem Staat.
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können in vielen Fragen aktiv mitbestimmen.

Umgekehrt sollte natürlich diese institutionelle Zurückbindung und Teilung der Macht nicht dazu führen, dass die Politik blockiert wird. Der rechtliche Rahmen für Gesellschaft und Wirtschaft muss ja laufend an neue Bedürfnisse angepasst werden, damit Wohlstand und Gerechtigkeit gesichert bleiben. Gerade angesichts des zunehmenden internationalen Standortwettbewerbs ist es sehr wichtig, dass das politische System leistungsfähig ist und zeitgerecht ausgewogene Problemlösungen erlaubt. Zudem sollen die Institutionen zur Stabilität des Staates beitragen. Die Stabilität stellt eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Dynamik dar.

Machtteilung und Leistungsfähigkeit, diese beiden zentralen Kriterien des politischen Systems, bilden ein Spannungsfeld, das sich laufend verändert. Es gehört deshalb zu den politischen Aufgaben, die Funktionsfähigkeit der politischen Institutionen immer wieder zu überprüfen und im Bedarfsfall die nötigen Reformen vorzunehmen. Dabei ist es wichtig, gewisse Grundbedingungen zu beachten. Ich möchte in Form von fünf Thesen auf diese Grundbedingungen eingehen.

3. Grundbedingungen für die institutionellen Reformen: fünf Thesen

These 1: Unsere politischen Institutionen sind dank ständigen Reformschritten leistungsfähig geblieben.

Die wichtigsten politischen Institutionen unseres Bundesstaates wurden im letzten Jahrhundert geschaffen. Sie haben sich über Generationen hinweg bewährt. In den letzten Jahrzehnten sind jedoch immer wieder Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit aufgekommen.

Die Kritik ins Rollen brachte namentlich der Staatsrechtler Max Imboden. 1964 veröffentlichte er ein kleines Büchlein mit dem Titel "Helvetisches Malaise". Darin beklagte er die um sich greifende schweizerische Grundstimmung zwischen Zuversicht und Selbstzweifel. Er diagnostizierte eine abnehmende demokratische Teilnahme des Stimmvolkes, eine abnehmende Leistungsfähigkeit des Staates, ein verzerrtes Gefüge der politischen Institutionen.

Er forderte eine Totalrevision der Bundesverfassung und einen bewussten Neuaufbau der staatlichen Institutionen. Diese Schrift von Max Imboden war ein wichtiger Impuls für die damals einsetzenden Bemühungen um eine Verfassungs- und Staatsreform. Die Bilanz dieser Bemühungen ist hingegen zwiespältig. Ich möchte einige Erfolge und Misserfolge in Erinnerung rufen:

Seit dem 1. Januar ist die neue Bundesverfassung in Kraft. Im Vergleich zu den ursprünglichen Visionen handelt es sich aber nicht um eine klassische Totalrevision an Haupt und Gliedern, sondern über weite Strecken um eine Nachführung des geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts.
Im Bereich des Parlaments wurden in den letzten Jahren zahlreiche Neuerungen eingeführt, etwa das System der ständigen Kommissionen oder eine verstärkte Mitwirkung des Parlaments in der Aussenpolitik. Die finanzielle Besserstellung der Parlamentsmitglieder und der Ausbau der Infrastruktur wurden hingegen 1992 vom Volk abgelehnt.
Im Bereich der Regierung konnte das neue Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz erst im zweiten Anlauf 1997 in Kraft gesetzt werden. Die erste Vorlage, in der die Schaffung von Staatssekretären vorgesehen war, wurde vom Volk 1996 verworfen.
Im Bereich der Justiz lehnte das Volk 1990 den Versuch ab, das Bundesgericht durch Zugangsbeschränkungen zu entlasten. Vor zwei Wochen nahmen nun Volk und Stände eine Justizreform auf Verfassungsstufe an. Das Parlament hat aber auf wichtige Vorschläge des Bundesrates verzichtet.
Im Bereich der Volksrechte gelang 1987 die Einführung des Doppelten Ja bei Volksinitiativen mit direktem Gegenvorschlag. Der Vorschlag des Bundesrates zu einer umfassenden Reform der Volksrechte hat hingegen beim Parlament noch nicht den erhofften Anklang gefunden. Wie es mit dieser Reform tatsächlich weitergeht, ist zur Zeit noch offen.

Angesichts dieser Reformbilanz verweisen viele auf das halbleere Glas, auf die Misserfolge. Nicht zuletzt in der politischen Wissenschaft wird oft unsere Innovationsschwäche im institutionellen Bereich beklagt. Kritiker halten der Politik mangelnde Gestaltungskraft und fehlende Konzepte vor. Und sie begünden dies häufig mit unserem politischen System, das die Konkordanz statt den Wettbewerb fördere. Die "neue Mulmigkeit" und Politikverdrossenheit, die da und dort festgestellt wird, trägt immer noch ähnliche Züge wie das "helvetische Malaise" von Max Imboden.

Ich verweise auf das halbvolle Glas: Trotz einigen Misserfolgen haben wir unsere Institutionen kontinuierlich erneuert. Das politische System der Schweiz ist auch heute noch leistungsfähig. In gewissen Sachgebieten wie der Drogen- oder Umweltpolitik wird uns eine weit überdurchschnittliche Innovationsstärke attestiert. Die wirtschaftspolitische Bilanz der letzten Jahre darf sich sehen lassen. Dies wird auch von Vertretern der Wirtschaft anerkannt.

These 2: Weitere Reformen sind nötig, brauchen aber genügend Zeit.

Angesichts dieser Feststellungen müssen wir also nicht Trübsal blasen. Wir dürfen aber auch nicht die Hände in den Schoss legen. Denn es ist nicht klar, ob das eher gemächliche Reformtempo auch in Zukunft noch genügt. Der Entscheidungsrhythmus in der Politik hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Wir laufen Gefahr, dass Bundesrat, Parlament, aber auch das Stimmvolk dadurch überbeansprucht werden. Nötige Verbesserungen sind deshalb entschlossen anzupacken.

Bei aller Entschlossenheit sind aber Schnellschüsse zu vermeiden. Denn wenn es darum geht, die Spielregeln der politischen Entscheidungsfindung zu verändern, ist besondere Sorgfalt nötig. Es ist also nicht negativ, wenn wir uns genügend Zeit dafür nehmen. Zwar habe ich persönlich oft den Eindruck, einzelne Projekte sollten rascher vorangetrieben werden. Ich stelle aber immer wieder fest, dass die politischen Reifeprozesse in unserem Land Gold wert sind. Deshalb bin ich auch Volk und Ständen sehr dankbar, dass sie die Beschleunigungsinitiative vor zwei Wochen so massiv abgelehnt haben. Ehrlich gesagt, ich bin nicht nur einfach dankbar, sondern ich habe mich über dieses tolle Resultat gewaltig gefreut.

These 3: Ein Systemwechsel ist unrealistisch und unnötig.

Wer sich einen grossen Innovationsschub im Bereich der Institutionen wünscht, der meint in der Regel den Umbau des Systems. Die direkte Demokratie, die Kollegialregierung, die Konkordanz und auch der Föderalismus werden häufig verantwortlich gemacht für die angebliche Innovations- und Steuerungsschwäche unserer Politik. Viele wünschen deshalb den Übergang zum Konkurrenzmodell mit wechselnden Regierungsmehrheiten, wie es im Ausland üblich ist. Ein solcher Wechsel wäre nur mit einem radikalen Umbau unserer politischen Institutionen möglich. Nötig wäre in erster Linie eine massive Einschränkung der Volksrechte. Denn es sind die Volksrechte, die Bundesrat und Parlament zwingen, im Rahmen der Konkordanz breit abgestützte Lösungen zu suchen, die im Volk eine Mehrheit finden.

Ein solcher Systemumbau ist nicht nur unrealistisch, er ist auch unnötig. Die Leistungsfähigkeit unseres Systems darf sich wie erwähnt im internationalen Vergleich sehen lassen. Man mag sich streiten, ob dies trotz oder gerade wegen der Volksrechte so sei. Tatsache ist jedenfalls, dass auch die direkte Demokratie und der Föderalismus eine Quelle der politischen Innovation darstellen. Statt das System umzubauen, sollten wir deshalb das Bewährte weiterentwickeln.

These 4: Die institutionellen Reformen dürfen nicht mit der Frage der europäischen Integration verknüpft werden.

Wer sich den Systemwechsel wünscht, tut dies oft auch mit Blick auf konkrete politische Ziele. So wird geklagt, die direkte Demokratie und die damit verbundene Konkordanz seien ein Hindernis für aussen- und sicherheitspolitische Innovationen, sie stünden namentlich einer vertieften Integration der Schweiz in Europa entgegen.

Dem entgegne ich, dass wir die Fragen der europäischen Integration und der institutionellen Reformen nicht verknüpfen dürfen. Die zunehmende Internationalisierung der Politik ist eine Tatsache, die wir bei jeder Reform berücksichtigen müssen. Die Reformen sind auch so auszugestalten, dass sie allfällige weitere Integrationsschritte nicht erschweren. Wer aber Anpassungen vorwegnehmen will, die erst bei einem allfälligen EU-Beitritt zu erwägen sind, der belastet die notwendigen Reformen unnötig. Solche Selbstblockaden müssen wir vermeiden.

These 5: In Ergänzung zu den institutionellen Reformen braucht es auch eine neue Mentalität.

Nun gibt es auch die umgekehrte These, die besagt, dass wir gar nicht institutionelle Reformen brauchen, sondern nur eine neue politische Mentalität. Mit dem nötigen politischen Willen könne eine Mehrheitsregierung mit klarem politischen Programm gebildet werden. Auf diese Weise sei eine Wende in der Schweizer Politik herbeizuführen.

Diese Argumentation greift meines Erachtens zu kurz. Die drohende Überbelastung des Systems würde dadurch nicht behoben. Zudem gehört zu unserer direkten Demokratie auch eine entsprechende politische Kultur. Diese besteht nun einmal in der Konsenssuche auf möglichst breiter Basis. Natürlich gibt es Fragen, die durch ein klares Ja oder Nein zu entscheiden sind und die im Konflikt auszutragen sind. Namentlich für die Weichenstellungen in der Aussenpolitik gibt es häufig keine Mittelwege oder Kompromisse. Das bedeutet aber nicht, dass wir deswegen gleich Abschied nehmen müssen von unserer bewährten Kultur des Dialogs und des Ausgleichs.

Es ist aber richtig, dass die mentalen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Politik in der Schweiz heute nicht ideal sind. Umfragen belegen eine im Vergleich zum Ausland überdurchschnittliche Unzufriedenheit der Bevölkerung. Natürlich gibt es auch in unserem Land Menschen, denen es materiell oder gesundheitlich schlecht geht. Der insgesamt weit überdurchschnittliche Wohlstand der Schweiz steht jedoch im Gegensatz zur pessimistischen Einstellung vieler Menschen.

Das schlägt auch auf die politische Grundstimmung durch. In vielen Kreisen wird eine überkritische Haltung gegenüber dem Staat eingenommen oder gar politisch geschürt. Die Behörden werden oft pauschal der Unfähigkeit beschuldigt. Dabei glänzen die Kritiker selber oft mit mangelndem persönlichem Engagement. Selbstverständlich brauchen wir kritische Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Kritikfähigkeit und eine positiven Grundeinstellung zum Staat und seinen Entscheidungsprozessen schliessen sich jedoch nicht aus. Im Gegenteil: Eine positive Grundhaltung aller Beteiligten verbessert die Ausgangslage für Reformen. In diesem Sinne bin ich überzeugt, dass die Reformen letztlich im Kopf beginnen.

Im Bereich der politischen Institutionen sind wir vielleicht oft auch überängstlich gegenüber Veränderungen. In der viersprachigen Schweiz sind die politischen Institutionen sehr wichtig für die nationale Identität und die Integration aller Landesteile. Speziell die Volksrechte sind heute ein zentraler Indentitätsfaktor. In geringerem Mass gilt dies auch für die Institution des Bundesrates. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir an diesen Institutionen keine Änderungen mehr vorzunehmen wagen.

Diese Zurückhaltung steht im Gegensatz zu unserer Offenheit in Sachgebieten wie der Drogen- oder Verkehrspolitik. Ich plädiere deshalb gerade auch bei den institutionellen Reformen für mehr Zuversicht und Mut. Denken wir zuerst einmal an die Chancen, und suchen wir nicht immer gleich das Negative.

4. Zu den laufenden Reformprojekten

Wie erwähnt, sind zur Zeit Reformprojekte in den Bereichen Staatsleitung, Föderalismus, Volksrechte und Justiz in der Bearbeitung. Alle diese Projekte bauen auf unseren bewährten Institutionen auf und wollen sie weiterentwickeln. Wenn das eine oder andere dieser Projekte nur mühsam vorankommt, dann wohl wegen der fehlenden inneren Reformbereitschaft. Ich will versuchen, mit ein paar Bemerkungen zu einzelnen dieser Projekte Ihre Reformbereitschaft zu wecken, soweit dies nötig ist.

Staatsleitungs- bzw. Regierungsreform

Ausgangspunkt für die Staatsleitungs- oder treffender für die Regierungsreform ist die Feststellung, dass die Anforderungen an Bundesrat und Parlament in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark gestiegen sind. Dafür gibt es mehrere Ursachen:

Der Bund erhielt in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Kompetenzen.
Die internationale Verflechtung der Schweiz nimmt laufend zu. Das nimmt Zeit in Anspruch und führt zu komplexeren Problemstellungen.
Die Verwaltung arbeitet heute immer stärker wirkungs- und zielorientiert. Ihre Führung ist deshalb anspruchsvoller geworden.
Unsere Politik ist durch eine wachsende Polarisierung gekennzeichnet. Dadurch ist der Aufwand der Regierung für die Konsenssuche und die Öffentlichkeitsarbeit stark gewachsen.
Der kooperative Föderalismus, den wir heute zwischen Bund und Kantonen pflegen, ist nur dank grösserem Zeiteinsatz möglich.

Mit der Regierungsreform möchte der Bundesrat namentlich folgende Ziele erreichen:

Die Bundesratsmitglieder sollen sich stärker auf zentrale Geschäfte konzentrieren können. Damit soll die Führungskraft der Regierung gestärkt werden.
Zudem soll die Gesamtverantwortung des Bundesrates im Verhältnis zur departementalen Verantwortung der einzelnen Kollegiumsmitglieder besser zum Tragen kommen.
Dazu braucht es nicht einfach eine Entlastung des Bundesrates, sondern eine Verlagerung der Belastung. Es geht uns nicht etwa darum, mehr Freizeit zu haben, sondern darum, mehr Zeit für die wichtigsten Geschäfte verwenden zu können.

Gestützt auf die Vernehmlassungsergebnisse hat der Bundesrat im letzten Herbst entschieden, die Reform auf der Basis eines zweistufigen Regierungsmodells weiterzuführen. Die Grundidee besteht darin, den Bundesrat durch eine unterstellte Regierungsstufe zu entlasten. Die Mitglieder der zweiten Regierungsstufe könnten zum Beispiel legitimiert werden, den Bundesrat im Parlament oder im Ausland zu vertreten.

Das Kollegialprinzip und das Departementalprinzip, wie sie in Artikel 177 der neuen Bundesverfassung festgeschrieben sind, will der Bundesrat beibehalten. Das Kollegialprinzip fördert die Geschlossenheit der Regierung. Geschlossenheit ist aber gerade für eine Konkordanzregierung ganz entscheidend. Natürlich hat auch das Kollegialprinzip seine Nachteile. So können sich die Kollegiumsmitglieder in der Öffentlichkeit nicht immer so frei äussern, wie sie sich dies vielleicht wünschten. Deshalb enthalten die Reden und Vorträge von Bundesratsmitgliedern auch selten sehr brisante Äusserungen. Ich gehe jedoch davon aus, dass Sie damit leben können.

Mit dem Festhalten am Departementalprinzip unterstreicht der Bundesrat, dass er die Regierungstätigkeit nicht künstlich aufteilen will in eine strategische und eine operative Führungsebene. Er will bei zentralen Geschäften die Leitung direkt in den Händen behalten. Die Ausgestaltung des zweistufigen Modells wird dadurch wohl anspruchsvoller. Doch kann die Einfachheit der Lösung nicht das entscheidende Kriterium sein.

Die Regierungsreform ist kein einfaches Dossier, denn die Meinungen in Bundesrat und Parlament sind stark aufgrund persönlicher Erfahrungen geprägt. Der Bundesrat ist aber gewillt, dem Parlament die Botschaft in der zweiten Hälfte 2001 vorzulegen.

Reform der Volksrechte

Ein weiteres wichtiges Reformpaket ist die Volksrechtsreform. In der öffentlichen Wahrnehmung liegt sie im Koma oder ist sie gar schon begraben. Dem ist aber nicht so. Zwar hat das Parlament letztes Jahr beschlossen, auf die Vorlage des Bundesrates nicht einzutreten. Die Meinungen über die Ausrichtung der Reform gingen zu weit auseinander. Das heisst aber nicht, dass das Parlament den Reformbedaf nicht erkannt hat. Die Staatspolitischen Kommissionen beider Räte haben je eine Subkommission eingesetzt, um den Reformbedarf nochmals zu analysieren und Vorschläge auszuarbeiten.

Der Bundesrat unterstützt dieses Vorgehen. Er begrüsst auch, dass das Parlament von den Reformvorschlägen des Bundesrates ausgehen will. Ich bin gespannt, welche Antworten die parlamentarischen Kommissionen geben werden.

Die Weiterarbeit an der Volksrechtsreform war einer der Gründe, warum der Nationalrat in der Màrzsession die Volksinitiative, die ein konstruktives Referendum verlangt, abgelehnt hat. Diese Initiative auf Bundesebene entspricht ungefähr dem "Volksvorschlag", der im Rahmen der Totalrevision der Schaffhauser Kantonsverfassung zur Zeit diskutiert wird und von Ihrer Regierung abgelehnt wird mit ähnlichen Gründen, wie sie der Bundesrat gegen das konstruktive Referendum vorbringt.

Ständerat und Nationalrat waren wie der Bundesrat der Meinung, dass die Initiative nicht losgelöst von der Gesamtreform der Volksrechte behandelt werden sollte. Denn es ist denkbar, dass in diesem Rahmen bessere Instrumente gefunden werden, zum Beispiel die allgemeine Volksinitiative. Diese Chance sollte nicht verbaut werden. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum Bundesrat und Parlament die Initiative ablehnen. Ich möchte nicht hier und heute den Abstimmungskampf eröffnen. Deshalb nenne ich nur das wichtigste Argument gegen die Initiative: Das konstruktive Referendum würde das Parlament schwächen. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben des Parlaments, konsensfähige Lösungen für die Gesetzgebung zu suchen. Das konstruktive Referendum böte einzelnen Interessengruppen die Möglichkeit, diesen Kompromiss wieder aufzubrechen. Es würde zum Rosinenpicken einladen. Die Vermittlerrolle des Parlaments würde in Frage gestellt.

Die Volksabstimmung über diese Initiative wird vermutlich im kommenden Herbst stattfinden. Volksrechte und Einbürgerungen

Die Reform der Volksrechte hat im übrigen nichts zu tun mit der Frage, ob Volksentscheide über Einbürgerungsgesuche sinnvoll seien oder nicht. Der Bundesrat ist der Meinung, dass es andere, bessere Wege für das Einbürgerungsverfahren geben könnte. Natürlich soll das Volk mitbestimmen können, wenn es darum geht, die Voraussetzungen für Einbürgerungen festzulegen. Da wirken die Volksrechte im gewohnten Rahmen. Es ist auch denkbar, dass an der Urne spezielle Einbürgerungskommissionen gewählt werden. Sehr heikel ist es aber, wenn wir Stimmbürgerinnen und Stimmbürger darüber entscheiden müssen, ob eine einbürgerungswillige Person alle Voraussetzungen erfüllt. Ob sie genügend integriert ist in unserem Land, können wir eigentlich nur beurteilen, wenn wir sie persönlich kennen. Das ist in der Regel nicht der Fall. Dann laufen wir Gefahr, dass plötzlich allein die Herkunft einer Person den Ausschlag gibt, ob sie eingebürgert wird. Um dies zu verhindern, braucht es kleine Gremien, die sich mit den Gesuchen vertieft auseinandersetzen.

Wir wollen diese Fragen sehr sorgfältig anschauen und prüfen. Auch wollen wir dem Parlament noch in dieser Legislatur einen Vorschlag unterbreiten zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.

Justizreform

Noch ein Wort zur Justizreform: Nach ihrer Annahme durch Volk und Stände muss sie jetzt auf Gesetzesstufe umgesetzt werden. Diese Gesetzesarbeiten werden nicht unumstritten sein. Die neuen Verfassungsbestimmungen geben dem Gesetzgeber die Kompetenz, das Bundesgericht in begrenztem Rahmen durch Zugangsbeschränkungen zu entlasten. Es wird zu entscheiden sein, wie weit dieser Spielraum ausgenutzt werden kann und soll. Der Bundesrat wird im Rahmen der Botschaft dazu Stellung nehmen.

Gewissen Ängsten möchte ich aber bereits jetzt entgegentreten. Ich stelle fest, dass viele Mitbürgerinnen und Mitbürger befürchten, ihre Rechte würden abgebaut, wenn sie keinen ungehinderten Zugang zu den obersten Gerichten haben. Dem halte ich entgegen, dass unsere unteren Gerichtsinstanzen in aller Regel gute Arbeit leisten, gerade auch auf kantonaler Ebene. Die unteren Instanzen sind die Visitenkarte unserer Justiz. Wenn wir dem Bundesgericht ermöglichen, sich auf Rechtsfälle von grundlegender Bedeutung zu konzentrieren, bedeutet dies deshalb keinen Rechtsabbau.

5. Schluss: Bedeutung der bilateralen Abkommen für unser Land

Die Reformen beginnen im Kopf, indem wir nicht nur die Probleme, sondern auch die Chancen wahrnehmen. Davon bin ich fest überzeugt. Diese Schlussfolgerung lässt sich übertragen auf die Volksabstimmung vom 21. Mai über die bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union. Ich möchte es nicht unterlassen, Ihnen abschliessend kurz den Standpunkt des Bundesrates zu dieser wichtigen Abstimmung zu umreissen.

Die bilateralen Abkommen bieten zahlreiche Chancen und Vorteile:

Sie stärken den Wirtschafts- und Arbeitsstandort Schweiz, indem sie den Zugang zum wichtigsten Absatzmarkt mit 380 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten verbessern. Davon profitieren nicht nur die Exportindustrie und die grossen Konzerne, sondern die gesamte Wirtschaft: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, kleine und mittlere Unternehmen.
Sie ermöglichen es insbesondere den jungen Schweizerinnen und Schweizern, künftig ihren persönlichen und beruflichen Horizont ungehindert ausserhalb der Schweiz zu erweitern.
Das Vertragswerk hat auch einen politischen Nutzen. Der Ausbau unserer Beziehungen zur EU ist ein Signal, dass wir uns nicht selbst von Europa abnabeln, sondern aktiv die gemeinsame Zukunft des Kontinents mitgestalten wollen.
Dieses Signal ist wichtig, weil es auch zahlreiche Themen gibt, wo die bilateralen Abkommen keine verbesserte Zusammenarbeit mit der EU bieten. Ich erinnere namentlich an das Asylwesen und die innere Sicherheit. Hier gibt es handfeste Probleme in der Kooperation mit der EU. Wenn wir in Zukunft auch in diesen Bereichen die Zusammenarbeit verbessern möchten, brauchen wir die bilateralen Abkommen als minimale politische Grundlage.

Die bilateralen Abkommen wecken auch Ängste. Bundesrat und Parlament haben die Befürchtungen aber ernst genommen. Sie haben gegen nachteilige Auswirkungen in den Bereichen Personenverkehr, Landwirtschaft und Landverkehr griffige flankierende Massnahmen beschlossen. Diese sind in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen Kreisen ausgearbeitet worden. Ein genereller Druck auf die Löhne und den sozialen Schutz schliesst der Bundesrat deshalb aus, ebenso auch eine massive Zunahme des Schwerverkehrs.

Das Fazit lautet deshalb: Die bilateralen Abkommen bringen der Schweiz unter dem Strich ganz klare Vorteile und Chancen. Sie stellen eine massgeschneiderte Lösung dar für eine gestärkte Stellung der Schweiz in Europa. Sie verdienen deshalb am 21. Mai die Zustimmung von uns allen.

Gerade am Beispiel der bilateralen Verträge lässt sich etwas aufzeigen, was auch für die Institutionen gilt: Man kann nicht einfach in Geld aufrechnen, was uns eine Änderung oder Neuerung bringt. Es gibt Bereiche, wo die politische Beurteilung der einzelnen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wichtiger ist als das Resultat einer betriebs- oder volkswirtschaftlichen Studie. Und deshalb ist es wichtig, dass jede und jeder Einzelne auch die Chancen sieht, die sich uns ergeben. Darauf vertraue ich: Dass wir uns in unserem Land wieder vermehrt für und nicht gegen Reformen einsetzen.

Braucht die Schweiz neue Institutionen oder eine neue Mentalität? Die Reformen beginnen im Kopf