Schweizer Gesundheit – Stand heute

Zürich, 10.09.2009 - Zürich, 10. 09.2009 - Ansprache von Bundesrat Pascal Couchepin

Meine Meine sehr verehrten Damen und Herren

Es ist mir eine grosse Freude, heute Abend hier mit Ihnen über die Kernfragen unseres Gesundheits-systems zu diskutieren. Viele Veranstaltungen werden zu diesem Thema abgehalten. Umso besser…Aber wie viele davon haben tatsächliche Auswirkungen in der Praxis?

Meine Erfahrung sagt mir, dass im Gesundheitsbereich das „Wissen“ zwar da ist, dass es aber häufig am „Wollen“ fehlt. Leider ziehen Vertreter von Partikularinteressen oftmals den Status Quo dem Risiko der Veränderung vor.
Wir dürfen uns durch diese Feststellung aber nicht zur Resignation verleiten lassen. Ganz im Gegenteil. Wir müssen unseren Erkenntnishorizont erweitern um der Mehrheit eine Entscheidfindung zu erleichtern. Das ist die Verantwortung der Demokratie.
Unser Gesundheitssystem ist unter verschiedenen Gesichtspunkten sehr leistungsfähig:

• Die gesamte Bevölkerung ist vor dem Risiko von Krankheit und Unfall geschützt.
• Wir haben einen sehr demokratischen Zugang zu einer breitgefächerten medizinischen und paramedizinischen Versorgung.
• Wir haben eine der weltweit höchsten Lebenserwartungen, und viele Menschen erreichen ein hohes Alter bei guter Gesundheit.
• Schliesslich ist eine grosse Mehrheit der Bevölkerung mit diesem System sehr zufrieden, wie eine Befragung kürzlich einmal mehr gezeigt hat.

Mit gewissen Nuancen, können wir uns auch zu unserer medizinischen Ausbildung und der grossen Leistungserbringerdichte beglückwünschen.
Ich sage mit „gewissen Nuancen“, da unsere Universitäten zwar ausgezeichnete Ärzte ausbilden, aber leider nicht genügend davon...was uns dazu zwingt Mediziner aus dem Ausland in die Schweiz zu locken. In Bezug auf die Leistungserbringerdichte haben wir bei den Ärzten ein regionales Verteilungsproblem, bei den Spitälern hingegen eine eindeutig zu hohe Dicht. Diese birgt sowohl auf der Qualitäts- als auch auf der Kostenseite Probleme. Ich komme gleich darauf zurück.
Wenn unser Gesundheitswesen heute oft in der Kritik steht, so ist es nicht der Zustand des Systems, sondern seine Entwicklung – vor allem im Kostenbereich, die Anlass zur Sorge gibt.

1) Kompetenzverteilung
Unser Gesundheitswesen hat eine sehr lange Tradition. Es ist ein System, das schrittweise von unten nach oben (Bottom-Up) gewachsen ist.
Tradition bedeutet Reichtum und Vielfalt, bedeutet aber auch Blockaden und Schwierigkeiten, wenn Reformen anstehen. Auf der gesetzlichen Ebene widerspiegelt sich diese lange Geschichte im Föderalismus.
Laut Verfassung hat der Bund nur eine subsidiäre Kompetenz im Gesundheitswesen. Sie beschränkt sich hauptsächlich auf die Krankenversicherung. Die Kantone hingegen sind für die Versorgungsstrukturen verantwortlich.

     Das Beispiel der Invalidenversicherung
Bitte erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs um dieses Problem besser zu schildern:
In zwei Wochen stimmen wir über die Zusatzfinanzierung für die Invalidenversicherung ab. Wenn wir heute hoffen dürfen, diese Abstimmung gewinnen zu können, dann weil übereinstimmend anerkannt wird, dass unsere bisherigen Reformen gut an die Hand genommen wurden.

Die 4. und 5. IV-Revision wurden beschlossen und in Kraft gesetzt, die 6. ist in Vorbereitung. Diese Reformen entfalten jetzt erste Wirkung. Die Zahl der Neurenten konnten gegenüber 2003 um über 40% gesenkt werden.
Um dies zu erreichen, brauchte es zuerst Gesetzes- und Verordnungsanpassungen. Danach musste Strukturen geändert, manchmal auch Personen ausgewechselt werden; und vor allem musste ein Kulturwandel bei IV-Stellen herbeigeführt werden. Ich wage zu behaupten, dass wir diese Reformen nicht zustande gebracht hätten, wenn die Kompetenzordnung in der IV so komplex wäre wie im Gesundheitsbereich!

Nehmen wir den Spitalsektor: Experten sagen, dass in der Schweiz 50 Spitäler – statt der derzeit 350 – genügen würden. (Der Vergleich mit den Niederlanden, mit einer Bevölkerung von 15 Millionen aber lediglich rund 100 Spitälern, spricht für sich ….) Das Problem besteht darin, herauszufinden, welche es sein sollen und wie sich die verschiedenen Kantone und Regionen einigen können.
Jeder will sein Spital und die neuste Technologie vor der Türe haben. Regierungsräte, die versuchen, ein Spital zu schliessen, setzen ihre politische Zukunft aufs Spiel…

Trotzdem gibt es auch ermutigende Zeichen, wie z.B. der Entscheid in Riehen vom letzten Sonntag, wo die Umwandlung des Gemeindespitals in ein ambulantes Gesundheitszentrum vom Volk genehmigt wurde…es bleibt allerdings zu hoffen, dass dadurch nicht einfach die stationäre durch eine gleich teure ambulante Versorgung ersetzt wurde.
Die Kantone wollen ihre Kompetenzen im Gesundheitsbereich behalten. Folglich müssen wir versuchen, sie auf der finanziellen Ebene stärker in die Pflicht zu nehmen.

Um das starke Kostenwachstum im ambulanten Spitalbereich zu bremsen, müssen die Kantone einerseits die Kompetenz erhalten, auch den ambulanten Spitalbereich mit Leistungsaufträgen zu regeln – wie wir das im Rahmen der dringlichen KVG-Revision vorgeschlagen haben. Und andererseits ist eine Kofinanzierung sämtlicher ambulanten und stationären Leistungen durch die Kantone und die Krankenversicherung anzustreben.
Damit würde mittelfristig die Basis für die Einführung eines monistischen Systems gelegt, d.h. eine Finanzierung sämtlicher Leistungen durch einen einzigen Kostenträger – zumindest hoffe ich das.

2) Qualität
Man weiss es und eine Reihe von Studien beweist es: Qualität ist in der Medizin, wie in anderen Bereichen auch, stark mit Erfahrung verbunden. Noch vor ganz Kurzem hat eine Studie über Brustkrebsbehandlungen eine Diskussion über die Qualität bei komplexen Behandlungen in kleineren Spitälern ausgelöst.

Das Konkurrenzdenken treibt die Spitäler jedoch dazu, immer leistungsfähigere Geräte anzuschaffen, dabei würde ein Qualitätsdenken die Zusammenlegung dieser Einrichtungen verlangen.
Selbstverständlich begründen die Spitäler ihr technologisches Aufrüsten mit der Qualität und dem Komfort für die Patienten. Fest steht aber, dass die Zahl der Patienten in jedem einzelnen dieser Zentren relativ gering sein wird, und man muss sich fragen, ob sie im Falle der kleinsten Spitäler ausreicht, um eine tadellose Qualität zu gewährleisten.

     Die Leistungspauschalen als Motor des Wandels
Die Einführung der DRG in den kommenden Jahren wird erhebliche Veränderungen im Spitalbereich mit sich bringen. Die Reform wird die Spitäler veranlassen, sparsamer mit ihren Ressourcen umzugehen. Im Übrigen wird sie auch Qualitätsvergleiche zwischen den Spitälern erleichtern.
Die Vergleichsindikatoren, die das BAG vor kurzem erstmals veröffentlicht hat, wurden hart kritisiert, weil sie nicht genügend differenziert seien.
Natürlich müssen die Indikatoren noch verbessert werden. Wir wissen, dass die Sterberate in einem Spital nicht unbedingt ein gutes Mass der Behandlungsqualität ist. Andererseits ist sie auch nur ein Indikator unter verschiedenen.
Ich zweifle nicht daran, dass es die Zusammenarbeit zwischen Spitälern und Behörden im Laufe der Jahre erlauben wird, die Qualitätsindikatoren zu verfeinern und ich lade Sie ein, sich aktiv an diesem Projekt zu beteiligen.

3) Kosten
Abgesehen von der Qualität werfen die Investitionen für Hightechgeräte auch Fragen auf der Kostenebene auf.
Ich erinnere Sie daran, dass die Kosten des (ambulanten und stationären) Spitalsektors rund 40% der Ausgaben der Krankenversicherung ausmachen. Nehmen wir das Beispiel des Inselspitals in Bern. Gemäss Jahresbericht wurde zwischen 2007 und 2008 ein Kostenanstieg um 7,6 Prozent, von 933 Millionen auf 1,004 Milliarden Franken, verzeichnet. Ähnlich verlaufen die Kostenentwicklungen im Universitätsspital Zürich mit 5,2% oder dem CHUV in Lausanne, wo die Kosten sogar um 9,3% gestiegen sind.
Man sieht es die Entwicklung ist besorgniserregend.
Darüber hinaus birgt die Einführung der neuen DRG auch die Gefahr eines weiteren Kostenschubs. Bei der Einführung des TARMED ist es uns relativ gut gelungen, dieses Risiko durch das System der Kostenneutralität zu bannen.

Bei den DRG dürfte dies allerdings schwieriger werden, weil die bisher von den Kantonen separat finanzierten Investitionskosten in den Pauschalen enthalten sein werden. In der Einführungsphase wird deshalb darauf zu achten sein, dass es nicht zu buchhalterischen Aufwertungen von bereits abgeschriebenen Anlagen kommt. Auch gilt es zu verhindern, dass die Spitäler überinvestieren, um in der Folge Anspruch auf höhere Tarife zu erheben.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im Bereich der Gesundheitsstrukturen nun vordringlich darum geht den Rationalisierungsprozess, der in den letzten Jahren eingesetzt hat, zu beschleunigen. Längerfristig werden wir nicht darum herumkommen über eine neue Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen nachzudenken.
Neben diesen Strukturanpassungen, was können wir sonst noch unternehmen um die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu bremsen?

Ich sehe drei Prioritätsachsen:
1. Ganz generell müssen die kostensenkenden Massnahmen der gesteigerten Produktivität Rechnung tragen. Die neuen Technologien gestatten es häufig, bestimmte Leistungen zu geringeren Kosten anzubieten. Leider sinken im Gesundheitsbereich die Tarife nie von alleine…
Aus diesem Grund müssen die Behörden von Zeit zu Zeit intervenieren, um die Tarife zu senken, wie wir dies im Bereich der Medikamente, der Laboranalysen oder auch der Mittel und Gegenstände getan haben.

2. Wir müssen uns auf die teuersten Fälle konzentrieren! Wir wissen, dass ungefähr 20% der Fälle 80% der Gesundheitskosten verursachen. Deshalb müssen wir versuchen diese Fälle systematischer zu identifizieren – es handelt sich dabei grösstenteils um chronische Erkrankungen – und die Behandlungskoordination zu stärken. In Deutschland haben die Disease Management Programme gezeigt, dass sie das Potenzial besitzen, die Behandlungsqualität zu erhöhen bei gleichzeitig sinkenden Kosten.
Schon vor einigen Jahren hatte ich vorgeschlagen, einen Hochrisikopool einzuführen, welcher es erlauben würde, gewisse schwere chronische Krankheiten durch medizinische Kompetenzzentren steuern zu lassen. Dieser Vorschlag war lange Zeit in der nationalrätlichen Gesundheitskommission blockiert, aber vor Kurzem ist er wieder aufgetaucht. Ich hoffe, dass dies ein gutes Omen für den weiteren Verlauf der Kommissionsarbeiten ist.

3. Wir müssen das E-Health- Projekt vorantreiben und das elektronische Patientendossier fördern. In einer Zeit, in der die Medizinaltechnik herausragende Fortschritte erzielt, wird die Patienten- und Informationsverwaltung in den Arztpraxen z.T. noch wie zu Zeiten des Paracelsus betrieben. Hier müssen wir zum Quantensprung ansetzen und zu den Technologien des 21. Jahrhunderts übergehen.

Das Lebensende als eine Frage der Ethik
Schliesslich stellt sich die Frage nach der letzten Lebensphase. Wir wissen, dass in etwa die Hälfte sämtlicher lebenslangen Gesundheitskosten einer Person in den letzten 6 Monaten vor dem Tod anfallen.
Das Problem ist, das man nie genau weiss, wann die letzte Lebensphase anläuft und wo die die ethisch vertretbaren Grenzen der Behandlung sind. Bei Letzterem ist mein Standpunkt klar. Es kann nicht Sache der Politik sein, die medizinischen Leistungen alter Leute zu beschränken: dies sind Fragen, welche der Ethik der Leistungserbringenden, der Verantwortung der Familienmitglieder und der konkreten Situation zu überlassen sind.

Aus diesem Grund, sollten in den Spitälern Ethikkommissionen gestärkt werden, die diese Fragen aufgreifen. Sie haben die Möglichkeit in entsprechenden Situationen, mit der Familie Kontakt aufzunehmen oder direkt mit dem Patienten über eine allfällige Weiterbehandlung zu entscheiden, oder aber ihm zu helfen dieses Jammertal ohne allzu grosse Leiden, mit Hilfe der Palliativmedizin, zu verlassen.

Schlussbemerkungen
Man hat mich gebeten heute den Stand des Gesundheitswesens in der Schweiz darzustellen.  Ich habe mich auf gewisse Strukturprobleme unseres Systems und einige Vorschläge, welche mir für die Zukunft wichtig erscheinen beschränkt.
Es ist ein sehr sensibler Bereich. Die Probleme sind komplex und die Interessen vielfältig. Mit einem Wort, es gibt keine einfachen Lösungen, das zeigt sich schon am Widerstand, den unsere Reformanstrengungen seit 10 Jahren hervorrufen.
Aber nicht nur bei uns. In den Vereinigten Staaten sieht sich Präsident Obama einem geharnischten Widerstand gegen sein Reformprojekt ausgesetzt. Ein sehr moderates Projekt, muss gesagt werden, da es sich an das schweizerische System anlehnt, das in Übersee als vorbildlich gilt.
Letzte Nacht hat Herr Obama in seiner Rede vor dem Kongress gesagt, dass er nicht der erste Präsident sei, der mit diesem Projekt beschäftigt war, aber dass er darauf zähle der Letzte zu sein. Hoffen wir, dass ihm die Reform gelingt… und hoffen wir ebenfalls, dass sie auch uns gelingt!

 

 

 

 


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