«Unter der Sonne der Freiheit Wohlstand und Sicherheit ernten»

Bern, 15.01.2014 - Bern, 15.01.2014 - Ansprache von Bundespräsident Didier Burkhalter anlässlich des Neujahrsempfangs für das diplomatische Corps - Es gilt das gesprochene Wort

Herr Nuntius
Herr Nationalratspräsident
Herr Ständeratspräsident
Exzellenzen
Meine Damen und Herren


Üblicherweise werden Sie beim Neujahrsempfang des diplomatischen Corps in Bern von zwei Vertretern der Schweiz begrüsst – dem Bundespräsidenten und dem Aussenminister. In diesem Jahr stehen Bundespräsident und Aussenminister in einer Person vor Ihnen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, doppelt so viele Hände zu schütteln, und habe Sie gebeten, jeweils den jüngsten Mitarbeiter oder die jüngste Mitarbeiterin Ihrer Botschaft zu diesem Neujahrsempfang mitzunehmen. Ich begrüsse deshalb ausdrücklich auch die jungen Diplomatinnen und Diplomaten hier im Bundeshaus, als Zeichen nicht nur für die heute guten bilateralen Beziehungen zu den Ländern oder Organisationen, die Sie vertreten, sondern auch für die Zukunft dieser Beziehungen. Das Bundespräsidium 2014 steht unter folgendem Motto: "Die Schweiz und die Welt: Jugend, Arbeit, Öffnung". Der ureigene Sinn des politischen Handelns ist es, die "Polis" gut zu führen – also den Ort, an dem wir zusammenleben – und den Weg zu bereiten für eine Zukunft, die den kommenden Generationen die bestmöglichen Perspektiven bietet.

Ich möchte dem Doyen des diplomatischen Corps für seine guten Wünsche an unser Land und an alle seine Bewohnerinnen und Bewohner ganz herzlich danken. Ich darf Ihnen und den Staaten, die Sie hier vertreten, meinerseits die besten Wünsche des Bundesrates und der Schweizer Bevölkerung für das neue Jahr 2014 überbringen.

Viele unter Ihnen entdecken die Vielfalt der Schweiz gerne anhand der Vielzahl unserer Kantone. Dieses Jahr möchte ich Ihnen anlässlich der Exkursion des diplomatischen Corps den Kanton Neuenburg zeigen. Denn dieser Kanton ist, wie das Wallis und Genf, vor genau 200 Jahren der Eidgenossenschaft beigetreten. Und im Kanton Neuenburg habe ich meine Wurzeln, die wie die Reben an den Hängen des Neuenburger Sees tief reichen. Nur wer fest verwurzelt ist, kann in die Welt hinaus schauen.

Lassen Sie mich Ihnen ein paar Zeilen der Neuenburger Hymne zitieren, einem Text aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der von einem Waadtländer Dichter, Henri Warnery, verfasst wurde. Er hatte seine festen Wurzeln in der Schweiz, in der Romandie, und hatte zugleich den Blick auf die Schweiz von aussen, da er in Istanbul und in der Nähe von Paris gelebt hat. Die Hymne sagt über die Neuenburger Republikaner von 1848 Folgendes:

"Sie waren gute Arbeiter,
die ihre Saat für ihre Mitmenschen ausbrachten,
auch wir säen heute, in besseren Zeiten,
die Saat der Hoffnung,
damit das Volk nach dem Sommer
eine reichere Ernte einbringen kann
– eine Ernte der Liebe und der Gerechtigkeit –
unter der Sonne der Freiheit".

Diese Zeilen sind nicht einfach nur schön, sondern von einer grossen Aktualität und von umfassender Gültigkeit. Damit die Sonne der Freiheit und aller anderen Grundwerte auf unsere Welt scheinen kann, sind die Staaten dieser Welt gefordert, gemeinsam Lösungen für die immensen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Sie müssen handeln, sie müssen "gute Arbeiter" sein.
Dabei müssen sie langfristig denken, heute die Saat ausbringen für Lösungen, die unsere Nachfahren in einigen Jahren oder Jahrzehnten als reiche Ernte einfahren können.

Meine Damen und Herren

Die Schweiz ist bereit. Sie ist bereit, ihren Beitrag zu leisten, solidarisch und mit Verantwortung gegenüber der Zukunft.

Die Schweiz und die Welt – die Bundesverfassung ruft uns dazu auf, unsere Interessen zu vertreten und unsere Werte zu fördern: Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Friede und Wohlstand vor allem – und uns solidarisch, verantwortungsvoll  und offen zu verhalten.
Dies betrifft in besonderem Masse unsere Beziehung zu unserem Kontinent Europa, von dem wir ein Teil sind: Unsere Geschichte, unsere Wirtschaft, unsere Kulturen, unsere Sprachen, unsere Werte verbinden uns mit unseren Nachbarländern und mit ganz Europa.

Die Schweiz leistet mit ihrer politischen Stabilität und ihrer wirtschaftlichen Dynamik einen namhaften Beitrag zu Stabilität und Wohlergehen in Europa – eine Studie der OECD hat das unlängst wieder aufgezeigt. Die Schweiz ist der zweitgrösste Investor in der EU, ihr viertgrösster Handelspartner und bietet Arbeitsplätze für zahlreiche Europäerinnen und Europäer.

Und umgekehrt ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz; sie trägt massgeblich dazu bei, dass in der Schweiz Arbeitsplätze geschaffen werden, die Innovationsfähigkeit hoch ist und Wohlstand herrscht. Die Schweiz stärkt sich, wenn sie gute Beziehungen zu ihren Nachbarn unterhält, und zwar nicht nur, was den Wohlstand und das Wohlergehen betrifft, sondern auch in Fragen der  Sicherheit und im Hinblick auf die gemeinsamen Werte.

Die Schweiz ist bereit für eine Erneuerung und Weiterführung dieses Weges – denn eine solide und beständige Beziehung zwischen der Schweiz und der EU liegt im Interesse beider Seiten. Nach den positiven Rückmeldungen der Kantone und der parlamentarischen Kommissionen hat der Bundesrat das Mandat für Verhandlungen mit der EU über die institutionellen Fragen verabschiedet.
Nun warten wir darauf, dass die Europäische Kommission ihr Mandat verabschiedet, damit wir zusammen so rasch wie möglich ein neues Stück dieses für beide Seiten so erfolgreichen Weges beschreiten können – dieses Weges, der beiden Seiten Gewinn bringt.

Ein wichtiger Bestandteil des bilateralen Weges ist die Personenfreizügigkeit. Immigration und Integration werden – wie in anderen Ländern – auch in der Schweiz kontrovers und emotional diskutiert. Die Politik nimmt die Bedenken der Bürgerinnen und Bürger ernst und sie handelt. Wir dürfen aber auch feststellen, dass die Personenfreizügigkeit und die erfolgreiche Integration der ausländischen Wohnbevölkerung einen wichtigen Anteil am wirtschaftlichen Wohlergehen unseres Landes haben. In den vergangenen Jahren haben die Stimmberechtigten wiederholt über den bilateralen Weg abgestimmt. Und sie haben immer Ja dazu gesagt. Die Bevölkerung der Schweiz entscheidet sich in den Abstimmungen fast immer für die Sicherung der Arbeitsplätze und des Wohlstands. Mit dem bilateralen Weg kann die Schweiz diesen Wohlstand wahren und gleichzeitig auch ihre Unabhängigkeit. Aus diesem Grund laden Bundesrat und Parlament die Stimmberechtigten ein, in der Abstimmung vom 9. Februar diesen bilateralen Weg ein weiteres Mal zu bestätigen.

Meine Damen und Herren

Gerade in diesem Jahr 2014 ist es wichtig, uns in Erinnerung zu rufen, dass Wohlstand und Friede keine Selbstverständlichkeit sind. 2014 jähren sich Ereignisse, die die Welt verändert haben: Vor 100 Jahren ist der 1. Weltkrieg ausgebrochen, vor 75 Jahren der 2. Weltkrieg. Zwei globale Katastrophen nie dagewesenen Ausmasses, die Generationen zerstört haben, Dutzende Millionen Männer, Frauen und Kinder getötet haben oder haben leiden lassen und unzählige Zeugnisse unseres Kultur- und Naturerbes und immense wirtschaftliche Güter vernichtet haben. Zwei Desaster für die ganze Menschheit.

Vor 25 Jahren ging mit dem Fall der Berliner Mauer für Millionen von Menschen die Sonne der Freiheit auf. Der Fall des Eisernen Vorhangs läutete ein neues Zeitalter ein, den Wechsel zu einer multipolaren Weltordnung. Die Erinnerung an diese epochalen Ereignisse zeigt uns: Sicherheit, Friede und Zusammenarbeit sind die Grundlage für unser aller Wohlergehen. Und der gemeinsame Einsatz aller Länder ist unabdingbar, damit diese Grundlagen gefestigt und für die Zukunft sichergestellt werden können.

In diesem Lichte ist auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu sehen, welche die Schweiz in diesem Jahr präsidiert. Wir betrachten den Vorsitz als eine Ehre, aber auch als Verpflichtung.

Die Schweiz ist bereit, ihr Engagement für Sicherheit und Stabilität in Europa und in den angrenzenden Regionen zu verstärken. Unser Leitmotiv lautet: "Eine Sicherheitsgemeinschaft im Dienste der Menschen schaffen". Wir werden drei übergeordnete Werte und Ziele verfolgen:

1. Sicherheit und Stabilität: Wir wollen uns namentlich für die Versöhnung und die Zusammenarbeit auf dem Westbalkan und für den Dialog und die Vertrauensbildung im Südkaukasus einsetzen.

2. Freiheit zur Verbesserung der Lebensbedingungen: Wir wollen uns namentlich einsetzen für eine bessere Prävention und Bewältigung von Naturkatastrophen und für den Kampf gegen den Terrorismus, der Thema einer Konferenz in Interlaken sein wird.

3. Verantwortung: Wir wollen die Handlungsfähigkeit der   OSZE verbessern, die OSZE weiterentwickeln – Stichwort "Helsinki +40" – und ihre Mediationskapazitäten stärken.

Die aufeinander folgenden Präsidentschaften der Schweiz und  Serbiens – mit einem gemeinsamen Arbeitsplan und der auf zwei Jahre ausgerichteten Nominierung von Sondergesandten – stellen eine Chance dar, die Aktivitäten langfristiger zu planen und damit die OSZE zu stärken. Wir wünschen uns, dass dieses Modell für weitere Vorsitze beispielhaft sein wird.
 
Die Schweiz ist bereit auch was die Fortführung ihres Engagements in den Vereinten Nationen betrifft. Das internationale Genf ist ein wichtiger Pfeiler dieses Engagements. Wir leisten damit einen Beitrag an die Förderung einer friedlicheren und gerechteren Weltordnung. Es erfüllt uns mit Stolz und Freude, dass die Schweiz mit Genf den Teilnehmern an den Verhandlungen zur Iranfrage eine zuverlässige und diskrete Plattform für die Bemühungen zur Lösung grosser Herausforderungen zur Verfügung stellen kann. Die Schweiz ist auch bereit, in einigen Tagen die Syrien-Konferenz zu beherbergen, von der wir uns einen Beitrag erhoffen für die Rückkehr zum Frieden und zum Wiederaufbau.  Ja, wir wollen, dass die internationale Schweiz mit Genf einen Ort bietet, an dem die grossen globalen Herausforderungen angegangen werden können, einen Ort, der mit seiner Infrastruktur und seinem Knowhow – mit Gebäuden, die ihre Gäste willkommen heissen, und mit dem Austausch von Wissen und Kenntnissen – einen Beitrag zur Lösung der Probleme unseres Planeten leistet.

Die Einweihung der "Maison de la Paix" in diesem Jahr und die Renovation des "Palais des Nations" sowie der Sitze mehrerer internationaler Organisationen sind Zeichen des klaren Willens, dass Genf weiterhin eine starke Rolle zum Nutzen der Welt einnehmen will.

Die Schweiz ist bereit, mit der internationalen Zusammenarbeit einen Beitrag zu leisten zu Sicherheit, Friede und Stabilität in der Welt.
Gerade in fragilen Kontexten ist die Verbindung der Entwicklungszusammenarbeit mit der Sicherheitspolitik, der Friedenspolitik und den Guten Diensten von zentraler Bedeutung. Besonders eindrücklich zeigt sich die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes beim Zugang zu sauberem Trinkwasser; Wassermangel ist immer häufiger die Ursache für Konflikte. Wasser ist denn auch zu einer Priorität der schweizerischen Aussenpolitik geworden. Die Schweiz hat angesichts dieser Herausforderungen entschieden, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken und die Kredite zu erhöhen. Mit diesem starken, vom Parlament beschlossenen Engagement wollen wir Not leidenden Menschen eine Perspektive vermitteln und zeigen, dass die Schweiz solidarisch ist. Genau so, wie wir bereit sind, Brücken zu bauen und als engagierter und glaubwürdiger Mediator aufzutreten, da wo dies nötig ist und gewünscht wird.

Die Schweiz ist ein Land, das seine Werte hochhält und Traditionen lebt. Allen voran der Wille zur Unabhängigkeit – die Sonne der Freiheit. Gleichzeitig sind wir gastfreundlich und offen und eines der international am stärksten vernetzten Länder. Werteverbundenheit und Öffnung – unsere Aussenpolitik ist von diesen beiden Haltungen geprägt, so wie sie auch auf dem wunderbaren Fresko hinter mir symbolisiert werden. Wir verteidigen unsere Freiheit und Unabhängigkeit, symbolisiert durch die Wiege unseres Landes, an den wunderbaren Ufern dieses herrlichen Sees gelegen.
 
Wir sind gleichzeitig verantwortungsbewusst, solidarisch und offen. Am Horizont begegnen sich die Alpen und der Himmel und eröffnen neue Perspektiven. Brücken werden geschlagen, Passübergänge öffnen sich und werden zu wichtigen europäischen Handelsrouten, schon in der Antike und im Mittelalter, zum gegenseitigen Nutzen . Heute baut die Schweiz zum selben Zweck den längsten Tunnel der Welt.

Diese Gegend, dieses Land haben so ihre Identität und ihre Eigenheit gestärkt und gleichzeitig ihre Schönheit bewahrt. Die massvolle Öffnung verbunden mit dem Willen zur Unabhängigkeit – diese Kombination ist der Schlüssel zum Erfolgsmodell Schweiz. Ihn zu bewahren, ist eine Verpflichtung gegenüber unseren nachfolgenden Generationen.

Meine Damen und Herren, Sie engagieren sich für konstruktive, positive und zukunftsorientierte Beziehungen zwischen Ihren Heimatländern und der Schweiz. Auch Sie bauen Brücken für ein besseres Verständnis zwischen Ländern und für die Förderung des Austauschs und des Handels. Sie spielen hierin eine wichtige Rolle. Die Schweiz und die Welt: Wir alle zusammen wollen dazu beitragen, Perspektiven zu eröffnen – Horizonte zu verbinden – und Beziehungen zu schaffen, die beiden Seiten nützen.

Zum Wohle von uns allen und zum Wohle der Generationen, die uns nachfolgen werden.  Durch Arbeit, Jugend und Öffnung.
 
Damit die Völker – frei nach der Neuenburger Hymne – nach dem Sommer eine reichere Ernte einbringen können – eine Ernte der Liebe und der Gerechtigkeit – eine Ernte des Wohlstands und der Sicherheit – unter der strahlenden Sonne der Freiheit!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich, mit Ihnen zusammen auf das neue Jahr anzustossen.


Adresse für Rückfragen

Kommunikation EDA
Bundeshaus West
CH-3003 Bern
Tel. Medienstelle: +41 58 460 55 55
E-Mail: kommunikation@eda.admin.ch
Twitter: @EDA_DFAE


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
https://www.eda.admin.ch/eda/de/home.html

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-51659.html