Konflikte unterhalb der Wahrnehmungsschwelle

Bern, 26.05.2014 - Rede von Bundesrat Ueli Maurer anlässlich der Generalversammlung der Handelskammer beider Basel vom 26. Mai 2014 in Basel

Es gilt das gesprochene Wort!

 

In den letzten Wochen haben wir immer wieder den Begriff Geopolitik lesen und hören können. Damit verbunden war meist Verwunderung, dass es solches im modernen Europa noch gibt. Da annektiert Russland die Krim, die NATO verlegt als Antwort darauf Soldaten und Kampfflugzeuge in die östlichen Mitgliedsstaaten - und plötzlich wird Machtpolitik wieder sichtbar.

Ich glaube, wenn man die grösseren Zusammenhänge verfolgt, ist man etwas weniger überrascht. Nur haben wir in den letzten Jahren einen Glauben an die friedliche internationale Verständigung und an eine globale Zusammenarbeit entwickelt, der uns beinahe blind gemacht hat.

Die Geopolitik war aber nie überwunden. Auch heute haben Länder keine Freunde, sondern Interessen. Und diese Interessen führen zwangsläufig immer wieder zu Interessenskonflikten.

Nur ist es so, dass diese Konflikte meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ausgetragen werden. Wir werden erst dann darauf aufmerksam, wenn ein Konflikt eskaliert, wenn die Panzer auffahren, wie jetzt in der Ukraine oder in Russland. Erst dann also, wenn uns die Medien erschreckende Bilder liefern. Das heisst, wir erkennen jeweils nur die Spitze des Eisberges.

Das ist politisch gefährlich. Weil man dann mit Sicherheit immer zu spät reagiert. Ich möchte darum heute Abend über drei Entwicklungen sprechen, die deshalb brisant sind, weil sie meiner Meinung nach von uns zu wenig beachtet werden: 

  • Rückkehr zur Machtpolitik
  • Verschärfte Standortkonflikte
  • Souveränitätsverlust durch internationale Einbindung


I Rückkehr zur Machtpolitik

Ich beginne mit der Rückkehr zur Machtpolitik. Der neue Ost-West-Gegensatz ist ein Beispiel dafür; ein gut sichtbares Beispiel. Aber nicht unbedingt ein typisches. Denn wie gesagt, offene Konflikte sind nur die Spitze des Eisbergs. Der grössere Teil macht wenig Schlagzeilen. Oft ist es ein Seilziehen um vordergründig juristische oder technische Angelegenheiten.

Dabei kommt das ganze Instrumentarium der diplomatischen Machtpolitik zum Einsatz: Druck, Erpressungen, Negativkampagnen, Anschuldigungen, Drohungen, verhandlungstaktische Manöver aller Art ...

Ich stelle diese Rückkehr zur internationalen Machtpolitik in letzter Zeit wieder verstärkt fest. Und das beunruhigt mich. Als wohlhabendes Land sind wir ein attraktives Ziel für Begehrlichkeiten. Die Schuldenkrise hat die Interessensgegensätze verschärft. Grosse Staaten und internationale Organisationen setzen auf Macht statt auf Verhandlungen und gute Argumente.

Der Grössere akzeptiert den Kleineren kaum mehr als ebenbürtigen Partner. Mächtige Staaten leiden unter ihren Schulden. Statt konsequent liberale Reformen anzupacken, geht man auf erfolgreiche Konkurrenten los. Man wirft ihnen zum Beispiel vor, Steueroasen zu sein.

Wenn die Schweiz heute im internationalen Vergleich wirtschaftlich gut da steht, haben wir das unserem freiheitlichen Staatssystem zu verdanken. Ich frage mich: Wäre es nicht besser, andere Staaten liessen sich von diesem Erfolg inspirieren, als dass sie unsere Ordnung verunglimpfen und bekämpfen?

Der Druck von Mächtigen auf kleine, aber erfolgreiche Konkurrenten nützt letztlich niemandem. Denn damit wird der Wettbewerb, der Motor des Fortschritts, abgewürgt. Am Ende resultieren Wohlstandseinbussen für alle. Selbst die mächtigen Staaten sind nur vorübergehende Gewinner. Denn wenn der Wettbewerb der Staatssysteme und der Standorte fehlt, schwindet auch der letzte Ansporn für die dringend nötigen Reformen.


II Standortkonflikte

Ich komme zum zweiten Punkt, zu den verschärften Standortkonflikten. Gerade hier zeigt sich die Rückkehr zur Machtpolitik besonders deutlich.

Die Schweiz hat dank ihrer liberalen Ordnung gute Karten im internationalen Standortwettbewerb. Nur hat sich der internationale Standortwettbewerb derart verschärft, dass er eben gar kein fairer Wettbewerb mehr ist. Wahrscheinlich müsste man eher von einem internationalen Standortkampf sprechen. Ich habe in diesem Zusammenhang in letzter Zeit vermehrt auch den Ausdruck Wirtschaftskrieg gehört.

Wirtschaftskonflikte um Standorte oder um Ressourcen wie Investitionskapital oder Steuersubstrat sind nichts Neues. Sie sind seit Jahrhunderten überliefert, stehen aber meist im Schatten von Ereignissen, die spektakulärer sind.

Herkömmliche Geschichtsschreibung interessiert sich für Schlachten und Staatsmänner, moderne Geschichtsschreibung stellt meist die Sozialgeschichte in den Vordergrund.

Wir kennen Morgarten von 1315 als erste Schlacht zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern. Weniger bekannt ist, dass es sich dabei um den zweiten Akt im Konflikt handelte. Der erste schaffte es nie zu grosser Prominenz - es war ein Wirtschaftskrieg: Kurz nach Gründung der Eidgenossenschaft verhängte Habsburg eine wirtschaftliche Sperre gegen die Urkantone. Der damals schon wichtige Handel und die Einfuhr von Gütern wurden damit unterbunden.[1]

Auch bei Wirtschaftskonflikten ist es so, dass wir jeweils nur die Spitze des Eisbergs sehen. Die brachialsten Auseinandersetzungen bleiben in Erinnerung. Wir erinnern uns vielleicht an jene Wirtschaftskonflikte, die eskalierten. Wie damals, als Nasser den Suezkanal verstaatlichte und damit den Handel zwischen Europa und Asien bedrohte. Oder an solche, die man selbst ganz direkt im Portemonnaie merkt, wie die beiden Ölkrisen 1973 und 1979.

Wir nehmen nur die Eskalationen wahr. Das ist heikel. So sind wir uns zu wenig bewusst, mit welchen Mitteln für welche Interessen gekämpft wird.

Ich befürchte, wir haben bis heute nicht so ganz realisiert, dass sich unser Land mitten in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen befindet, bei denen sehr viel auf dem Spiel steht.

Der wichtigste Standortvorteil der Schweiz, unsere vergleichsweise liberale Ordnung, ist seit einigen Jahren unter massivem Druck ausländischer Staaten und internationaler Organisationen. Schritt für Schritt zwingt man uns zu Anpassungen und damit zu einer Nivellierung nach unten. Früher oder später gefährdet das direkt unseren Wohlstand.

Die Mittel, die in Wirtschaftskonflikten eingesetzt werden, haben sich weiterentwickelt. Es geht nur noch in Ausnahmefällen darum, ein Land durch Embargo in die Knie zu zwingen. Heute ist die Strategie oft eine andere: Man zwingt den Konkurrenten dazu, seine Rechtsordnung zu ändern und damit seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu seinen Ungunsten abzuändern. So verliert dieser seine Stärken und fällt zurück.


III Souveränitätsverlust durch internationale Einbindung

Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Zum Souveränitätsverlust durch internationale Einbindung. Das ist die eleganteste Methode, einem Konkurrenten neue Regeln aufzuzwingen. Die höchste Kunst ist es dann, den Verlust an Souveränität sogar noch als etwas Positives und Fortschrittliches darzustellen.

Dabei wird verschwiegen, dass ein Verlust an Souveränität auch immer ein Verlust an Handlungsfreiheit ist.

Ein aktuelles Beispiel sind die Ideen, unseren Luftraum durch einen andern Staat sichern zu lassen. Es ist aber eine Illusion zu glauben, jemand würde unseren Luftraum sichern, ohne von uns Gegenleistungen einzufordern. Damit würden wir uns in fremde Abhängigkeit begeben. So wird man zum Satelliten einer Grossmacht oder eines militärischen Bündnisses.

Die Sicherheitspolitik ist nicht das einzige Beispiel. Sieht man sich die zahlreichen Verträge an, die wir in den letzten Jahren unterzeichnet haben, stellen wir fest: Da findet ein schleichender Souveränitätsverlust durch die Einbindung in internationale Regelwerke statt.


IV Auswirkungen auf die Schweiz

Von dieser Rückkehr zur Machtpolitik, vom verschärften Standortwettbewerb und vom Souveränitätsverlust sind wir als Bürger betroffen. Und wir sind auch als Volkswirtschaft betroffen. Denn in diesen Konflikten unterhalb der Wahrnehmungsschwelle wird viel entschieden. Erstaunlicherweise wenig beachtet, werden unsere liberalen Erfolgsgrundlagen in Frage gestellt und Schritt für Schritt aufgegeben.

Sehen wir uns die allerwichtigsten aktuellen Auswirkungen dieser Entwicklung an:

Im Vordergrund stehen der Steuerstreit oder der sogenannte Steuerdialog mit der EU, der Automatische Informationsaustausch, Auseinandersetzungen von Schweizer Banken mit den USA, die Datenlieferungsverpflichtung an die USA, allgemein unter ihrer Abkürzung FATCA bekannt, die Umsetzung der GAFI-Empfehlungen und die institutionellen Fragen mit der EU.

Als Landesregierung sind wir wie die Feuerwehr, die von einem Brand zum nächsten eilt, vielleicht können wir das Feuer etwas eindämmen, aber dann geht es schon am nächsten Ort los: Kaum glauben wir, dass ein Problem gelöst ist, wird wieder eine neue Forderung erhoben.

Alle diese genannten Brennpunkte haben drei Gemeinsamkeiten:

Erstens: Teile unserer innerstaatlichen Ordnung, die wir im Einklang mit Verfassung und Gesetzen demokratisch beschlossen haben, sollen auf fremdes Verlangen hin aufgehoben werden. Das ist aus demokratie- und souveränitätspolitischer Sicht höchst problematisch.

Zweitens: Wir übernehmen fremde Vorschriften, die nicht von unserem Souverän oder von unseren Parlamenten in den Kantonen oder in Bern demokratisch beschlossen wurden, sondern von Parlamenten anderer Staaten - oder vielleicht auch nur von Kommissionen und Ausschüssen mit fraglicher demokratischer Legitimation. Auch das ist aus demokratie- und souveränitätspolitischer Sicht höchst problematisch.

Drittens: Keines dieser Dossiers kann mit Sicherheit definitiv geschlossen werden. Die Entwicklung ist im Fluss, wir werden immer wieder mit neuen Begehrlichkeiten konfrontiert. Oft müssen wir auch feststellen, dass auf unser Entgegenkommen hin die Gegenseite mit neuen Forderungen reagiert.

Eines dieser Probleme möchte ich noch kurz konkret ansprechen, weil es für die Zukunft unseres Landes existentiell ist: Die institutionelle Frage mit der EU.

Die Schweiz und die EU suchen nach einem institutionellen Rahmen für die bilateralen Verträge. Die EU verlangt dabei, dass wir EU-Recht übernehmen - auch zukünftiges, das wir jetzt noch gar nicht kennen. Zudem sollte sich die Schweiz für die Auslegung und Anwendung des EU-Rechts sogar der EU-Gerichtsbarkeit unterstellen. Der Bundesrat ist der Meinung, dass wir keine fremden Richter akzeptieren dürfen. Das wäre das Ende unserer Unabhängigkeit.


V Fazit
Nicht, dass man überall nur Gegner und Konflikte sehen soll. Es geht mir schlicht um den gesunden Menschenverstand. Und um den nüchternen Sinn für die Realität. Für Sie als Unternehmer und Wirtschaftskader ist das nichts anderes als gewöhnlicher Alltag. Sonst hätten Sie schon längst Ihre Stelle verloren oder das Unternehmen in den Ruin geführt.
Wenn Ihnen ein Verhandlungspartner mit blumigen Worten etwas schmackhaft machen will, dann wissen Sie genau, dass Sie vorsichtig sein müssen. Ihnen ist bewusst, dass Sie nicht mit selbstlosen Wohltätigkeitsorganisationen verhandeln, die nur das Beste für Sie wollen.

Umgekehrt ist Ihnen auch klar, dass Sie Ihre Produkte oder Dienstleistungen nicht verschenken können, sondern zum höchstmöglichen Preis verkaufen müssen.

Ich bin der Meinung, an diesen einfachen Grundsätzen sollten wir uns auch als Land orientieren. Und vor allem sollte uns klar sein, was auf dem Spiel steht. 

Wir stehen dank einer liberalen Ordnung insgesamt gut da. Unsere grosse Schwäche ist aber, dass wir uns gar nicht richtig bewusst sind, welche Herausforderungen wir heute zu bestehen haben. Wie kann man sich für seine Interessen einsetzen, wenn man gar nicht wirklich realisiert, dass diese Interessen bedroht sind?

Wir befinden uns als Land momentan in folgenschweren Konflikten unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Eine erste, wichtige Verbesserung erreichen wir nur schon, wenn wir uns dessen bewusst werden und wenn die Bevölkerung beginnt, sich damit auseinanderzusetzen.

Denn es reicht nicht, solche Probleme an die Diplomatie, die Verwaltung oder die Politik zu delegieren. Schliesslich geht es um ganz grundsätzliche Fragen für unser Land. Und solche existentiellen Fragen sind Chefsache. Darum muss sich unsere höchste Instanz darum kümmern - und das sind Sie, die Bürgerinnen und Bürger!

 

 


[1] Peter Dürrenmatt, Schweizer Geschichte, Zürich 1963, S. 25


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