Filmtage Solothurn: Wo die Schweiz sich selber begegnet

Bern, 22.01.2015 - Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Solothurner Filmtage. Es gilt das gesprochene Wort.

Wer die Geschichte der Solothurner Filmtage kennt, versteht die Schweiz. Die Schweiz des schnellen Wandels. Und die Schweiz der Traditionen - der echten und der erfundenen.

Die Filme, die im Laufe der letzten 50 Jahre hier gezeigt wurden, sind ein faszinierendes Abbild unserer jüngeren Geschichte. Mehr noch: Seismographen unserer Befindlichkeit. Im Alten Schweizer Film erschien die Schweiz typischerweise als alpine Idylle. Im Neuen Schweizer Film - der gleichzeitig mit den Filmtagen aufkam - erscheint sie uns als das vielfältige und komplexe Land, das sie wirklich ist. 

Diese Begegnung mit uns selber - das ist das grosse Verdienst der Solothurner Filmtage.

Diese neue Qualität zeigte sich schon bei einem Film, der als Vorbote des Geistes von Solothurn gelten darf: Henry Brandts Expo-64-Film „La Suisse s'interroge" aus dem Jahre 1964. Der Titel lautete ursprünglich „La Suisse s‘inquiète". Dieser Titel wurde - weil zu kritisch - auf politischen Druck hin abgeändert. Er war ein Frevel an all dem, woran die offizielle Schweiz damals glaubte. Die Schweiz hatte keine Beunruhigung zu verspüren. Basta.

Die Aktualität von Henry Brandts Film verblüfft: Zwar herrschte in der Mitte der sechziger Jahre ein Fortschrittsoptimismus, wie er heute kaum mehr vorstellbar ist. Andererseits aber werden in Brandts Film bereits Themen behandelt, die auch heute noch für Debatten sorgen: Umweltprobleme, Wachstum und Lebensqualität, Zuwanderung, unsere Stellung in der Welt.

Wer sich diesen Film heute ansieht, steht vor der Frage: Sind 50 Jahre eigentlich eine lange Zeit? Für die Schweiz ist die Antwort eine dialektische: Ja und Nein. Hier herrscht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Wie schrieb doch der grosse Schweiz-Kenner Fritz-René Allemann: „Auf schweizerischem Boden verschränken sich die Zeiten dicht ineinander. Das Historische ist hier selten nur historisch: Es schaut an allen Ecken und Enden durch die Gegenwart hindurch."

Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass Albert Einstein die Relativität der Zeit ausgerechnet in der Schweiz entdeckt hat.

Die Schweiz ist auch heute noch, was sie schon damals war: Ein spannendes, aber auch ein spannungsreiches Land. Da ist die Schweiz, die in wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Rankings zuverlässig Spitzenplätze belegt. Und es gibt die vorsichtige Schweiz, die sich manchmal schwer tut mit Veränderung. Weil sie um ihre Identität fürchtet. Aber auch, weil ihre politischen Institutionen ein anderes Tempo haben als manche gesellschaftliche Entwicklung.

La Suisse est restée ce qu'elle était : un pays à plusieurs vitesses dont la diversité et les dualités sont à la fois une richesse et un défi :

  • le pays de la performance à la fois économique et scientifique, le champion de l'innovation.
  • mais, parallèlement, le pays de la prudence aussi, qui a parfois du mal avec le changement. Parce qu'il a peur pour son identité. Mais aussi parce que ses institutions politiques ont parfois un autre rythme que l'évolution de la société.

Nous devons toutefois veiller à ne pas nous laisser distancer. La votation du 9 février nous a montré à quel point l'interconnexion internationale de la Suisse était forte, l'interconnexion de la Suisse culturelle comme de la Suisse scientifique. Elle a nous a aussi montré à quel point ces deux Suisses étaient menacées par les tensions avec l'Europe.

Si le Conseil fédéral a pu rapidement pallier les aides financières à la Suisse culturelle, impossible, par contre, de compenser le précieux fruit des échanges et de la coopération transfrontalières.

C'est pourquoi, malgré les incertitudes actuelles, le Conseil fédéral fera tout pour que la Suisse réintègre le programme MEDIA.

Les Journées de Soleure sont un lieu de rencontre : 

  • l'endroit où la Suisse du lièvre rencontre la Suisse de la tortue;
  • l'endroit où la Suisse du changement rencontre la Suisse du statu quo, celle qui se sent dépassée par les mutations rapides.
    Un sentiment qu'il faut d'ailleurs prendre très au sérieux. Hors de question d'entendre sans écouter en qualifiant la chose de «malaise» avec désinvolture.

Mais Soleure, c'est aussi le festival qui porte à l'écran la société et la politique, mises en images de manière si saisissante par le cinéma.

Celui-ci propose un reflet nuancé et subtil de la Suisse et de ses dualités.

Confrontant les normes sociales avec la vie dans toute son imprévisibilité dans Les mamies ne font pas dans la dentelle.

Montrant avec force clichés une image pas si floue de notre pays dans Les faiseurs de Suisse.

Ces dernières années à Soleure, la société a damé le pion à la politique. En même temps que l'explicite laissait la place à plus d'implicite.

Réaction à la trop grande complexité du monde, cette évolution est un reflet de notre époque et souligne l'imbrication entre la société et la politique.

Le film que nous allons regarder ensemble en est un bel exemple. Dans « Unter der Haut », Claudia Lorenz montre de manière saisissante l'éloignement d'un couple et la déstabilisation d'une famille classique.

Découvrir d'autres vies, des alternatives. Explorer différentes sensibilités. 

Une curiosité précieuse, je dirais essentielle, comme celle qu'ont générée les Journées à leurs débuts.

Quand l'esprit agitateur des années 60 est venu secouer les pesantes conventions des années 50.

In seinen Anfängen war der Film das Medium einer ungeheuren Beschleunigung. Heute, in unserer rasenden Mediendemokratie, ist Kino zum Medium der Entschleunigung geworden. Er ist das Medium, das differenzieren kann, weil es sich Zeit nimmt. Und wir uns im Kino dafür Zeit nehmen. 90 Minuten verbringen wir mit Stillsitzen. Wieso? Weil das Kino ein Ort der Unterhaltung UND der Reflexion ist. Gerade hier in Solothurn, wo auch Farbfilme Grautöne haben. So wie unser Leben auch. Wo nicht der digitale Code regiert, der sämtliche Themen in Pro und Contra, gut und schlecht herunterbricht.

Verstehen heisst mehr als intellektuell durchdringen, ein Problem in Daten umwandeln und damit politikfähig zu machen. Verstehen heisst, sich in andere Menschen und deren Lebenssituation hineinzuversetzen.

Dieses Verständnis für das andere Leben macht den Film wertvoll - für uns selbst, aber auch für unser Zusammenleben. Die Politik baut darauf, dass wir mit Kopf und Herz verstehen. Deshalb ist in unserer direkten Demokratie der Film ein Leitmedium - der Dokumentarfilm genauso wie der Spielfilm. Wir müssen wissen, wie andere leben, um gute Entscheidungen zu treffen. Wie andere die Schweiz und die Welt wahrnehmen.

Ohne dieses Einfühlungsvermögen kann unser vielfältiges Land nicht funktionieren.

Was hier, in den Kinosälen von Solothurn seit 1966 geschah, das hat die Schweiz geprägt, indem es sie genau beobachtet hat. Indem es unsichtbare Realitäten sichtbar gemacht hat.

Und wir uns danach fragten, wie es uns gelang, uns blind zu stellen. Siamo italiani.

Indem es den Brüchen in unserer kollektiven Identität nachgespürt hat. Züri brännt.

Indem es Brüche in unserer individuellen Identität aufzeichnete. Charles mort ou vif. Les petites fugues.

Indem es die Schnittmenge von Politik und Persönlichem auslotete. E Nachtlang Füürland. Grounding.

Indem es die Entfremdung und den Schmerz der Veränderung dokumentiert im Übergang von der ländlichen Welt zur modernen Gesellschaft. Ex voto. Matlosa. Hiver nomade

Vor allem - und das durchzieht alle Filme - indem es uns durch eine neue Art von Heimatfilm eine neue Art von Heimat geschenkt hat. Home. Höhenfeuer.

Ich gratuliere den Solothurner Filmtagen zum 50. Geburtstag !


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