Ohne Wurzeln kein Baum

Bern, 01.08.2015 - Rede von Bundesrat Ueli Maurer anlässlich der Bundesfeier 2015, gehalten am 1. August in Grosswangen und Nottwil

Es gilt das gesprochene Wort 

Hat es jemanden hier, der seine Hand freiwillig in eine offene Flamme hält?

Wohl kaum. Denn wir alle haben uns mal als kleines Kind die Finger verbrannt. So haben wir gelernt, dass Feuer heiss ist. Diese Erfahrung hat sich uns eingeprägt. Als vernünftige Menschen sind wir lernfähig. Unsere Erfahrungen helfen uns, das Leben zu meistern.

Wenn dagegen ein Mensch die Erinnerung an alle seine prägenden Erlebnisse verliert; wenn jemand unter Amnesie oder Demenz leidet, führt das zu Verhaltensstörungen und zum Verlust der Selbstständigkeit.

Bei Ländern und Völkern ist das nicht anders. Auch sie brauchen die Lehren aus der Vergangenheit, die ihnen Orientierung geben. Die Geschichte prägt die Gegenwart; sie ist ein Teil des Landes, so wie unsere Erinnerungen und Erfahrungen ein Teil unserer Person sind. Wenn einem Land seine Erinnerung genommen wird, verliert es seinen Charakter, seine Identität, wird manipulierbar und verliert wie der Mensch ebenfalls seine Selbstständigkeit.

Unser Land feiert heute, am 1. August, seinen Geburtstag. Geburtstage sind ja immer ein Anlass, um zurückzublicken. Dieses Jahr haben wir ein besonders reich befrachtetes Gedenkjahr. Wir gedenken vier historischer Ereignisse. Aus allen vier können wir Lehren ziehen, die auch heute noch gültig bleiben.

Hier als Vorbemerkung noch kurz ein Wort an all jene, die unsere Schweizer Geschichte belächeln und nicht müde werden zu betonen, diese sei nur ein patriotisches Trugbild: Niemand behauptet, 1291 sei ein Masterplan verabschiedet worden, wie die Schweiz im 21. Jahrhundert auszusehen habe. Aber es wurde damals eine Entwicklung angestossen, aus der mit allen Irrungen und Wirrungen über die Jahrhunderte unser modernes Land entstanden ist. Und gerade weil es keine lineare Entwicklung war, sind die schicksalshaften Wendepunkte und die Lehren daraus bis heute wichtig geblieben.

Bildhaft gesprochen: Wenn Sie in einem Garten auf die Wurzeln eines Baumes stossen, dann sehen diese auch anders aus als die Blätter der Baumkrone. Aber es wäre doch schon sehr abwegig zu behaupten, zwischen Wurzeln und Baum bestünde kein Zusammenhang …

Wir gedenken dieses Jahr der Schlacht am Morgarten, der Schlacht bei Marignano, dem Wiener Kongress und dem Rütli-Rapport. Überall finden wir eine wichtige, zeitlose Lehre für unser Land:

Morgarten 1315

Vor 700 Jahren, 1315, mussten die Eidgenossen zu ihrer ersten Freiheitsschlacht antreten. Die Habsburger unter Herzog Leopold zogen durch das Ägerital gegen Sattel. Das Heer bestand aus adligen Rittern und ihrem Gefolge. Das waren militärische Profis. Und Habsburg war eine junge Grossmacht. Die Chancen standen also schlecht für die Eidgenossen. Wären sie zur offenen Feldschlacht angetreten, hätten sie verloren.

Aber sie setzten geschickt auf ihre Stärken. Sie nutzten das Gelände. Am oberen Ende des Ägerisees, wo sich das Ritterheer zwischen Abhang, Sumpf und See nicht aufstellen konnte. In diesem Hinterhalt griffen sie überraschend an.

Die Taktik der Eidgenossen widersprach dem damaligen ritterlichen Kriegsverständnis, das vom adligen Turnier geprägt war. Aber hätten sie die höfischen Regeln und Rituale rund um den ritterlichen Kampf übernommen, gäbe es heute keine Schweiz.

Die Lehre aus Morgarten lautet: Passt Euch nicht den andern an, macht aus Euren Besonderheiten Stärken. Auf heute übertragen heisst das: Wir müssen nicht gleich sein, wie alle andern, als kleines Land müssen wir kreativer, flexibler und besser sein. Und dazu brauchen wir eine freiheitliche Ordnung – das ist unsere Chance!

Daran sollten wir uns auch erinnern, wenn die EU von uns ein institutionelles Abkommen verlangt. Wir müssten damit ihre Rechtsordnung übernehmen und uns ihrer Gerichtsbarkeit unterstellen. Was beschönigend als Rechtsharmonisierung bezeichnet wird, wäre das Ende unserer Unabhängigkeit und brächte wirtschaftlich eine Zwangsnivellierung nach unten.

Marignano 1515

Vor 500 Jahren, 1515, kam es zur Schlacht von Marignano. Wie häufig zu jener Zeit war das Gebiet des heutigen Italien ein geopolitischer Brennpunkt. Die europäischen Mächte mischten sich immer wieder in die Konflikte zwischen den vielen verschiedenen italienischen Fürstentümern und Stadtstaaten ein. Auch die Eidgenossen betrieben Machtpolitik und kämpften einmal mit diesen gegen jene und einmal mit jenen gegen diese. 1515 standen sich die Truppen des französischen Königs Franz I. und die Truppen des Herzogs Sforza von Mailand gegenüber. Auf der Seite von Mailand kämpften Tausende von Eidgenossen.  

Die Franzosen gewannen bei Marignano, weil die Eidgenossen Führungsprobleme hatten, weil sie uneinig waren und weil sie militärisch nicht mehr richtig auf der Höhe der Zeit kämpften. Sie traten im Schlachthaufen gegen Artillerie und Reiterei an. Vor allem die Artillerie wurde damals neu im grösseren Stil eingesetzt. Dazu kam das Schlachtenglück der Franzosen, im entscheidenden Augenblick tauchten ihre venezianischen Verbündeten auf. Die Zahl der gefallenen Eidgenossen wird auf gegen 10‘000 geschätzt.[1]

Das war ein Schock, der tief sass und nachwirkte. Nach Marignano gab die Eidgenossenschaft ihre Expansionspolitik in Italien auf. Aus dieser Neuausrichtung entwickelte sich unsere Neutralität.

Die Lehren aus Marignano lauten: Erstens – Heldenmut nützt nichts, wenn die Waffen veraltet oder nicht in der nötigen Zahl verfügbar sind. Denken wir daran, wenn es um das Armeebudget geht. Sind wir noch bereit, den Soldaten, die im Ernstfall für unser Land ihr Leben riskieren, die notwendige Ausrüstung zu geben? Das ist nicht nur eine Frage der Sicherheitspolitik, das ist auch eine Frage der moralischen Verpflichtung. 

Und zweitens: Es kommt nicht gut, wenn man als Kleinstaat Grossmacht spielen will. Da sollten wir unsere heutigen Ambitionen nach weltpolitischer Bedeutung meiner Meinung nach etwas kritischer hinterfragen. In einer Welt, in der die Spannungen zwischen den Grossmächten wieder zunehmen, gewinnt unsere Neutralität sogar noch an Bedeutung.

An dieser Stelle möchte ich noch auf eine besonders verblüffende Konstellation aufmerksam machen: Es gibt gewisse eher links und internationalistisch positionierte Historiker, welche die Bedeutung von Marignano herunterspielen wollen. Sie beweisen damit ironischerweise einmal mehr, dass die Schweiz eben doch ein Sonderfall ist. Denn es gibt wohl kein anderes Land auf der Welt, wo armeekritische und pazifistische Kreise eine militärische Niederlage verharmlosen, in andern Ländern tun das militaristische Hardliner … Sie sehen am Beispiel von Marignano damit auch, dass wir Schweizer ein ausgesprochen reifes Geschichtsverständnis haben. Da ist nichts von überheblichem Hurra-Patriotismus; während andere nur ihre Siege feiern, gedenken wir auch den Niederlagen und ziehen Lehren daraus. 

Wienerkongress 1815

Vor 200 Jahren, 1815, wurde am Wienerkongress unter anderem auch über das Schicksal der Schweiz verhandelt – es hing damals an einem dünnen Faden. Unser Land war ein Teil der Konkursmasse von Napoleons Europa-Reich. Dass die Schweiz als Staat fortbestehen konnte, ist unter anderem dem Geschick des Genfer Diplomaten Charles Pictet de Rochemont zu verdanken.

Zuvor hatte die Schweiz erleben müssen, was es heisst, zu einem gesamteuropäischen Superstaat zu gehören: Begonnen hatte es für etliche mit grossen Erwartungen. Die Schlagworte von Freiheit und Gleichheit verhiessen ein neues Zeitalter. Der ganze Kontinent sollte nach neuen Idealen umgestaltet werden: Neue Gesetze nach französischem Vorbild. Einheitliche Masse und Gewichte, sogar eine neue Zeitrechnung, neue Bekleidungen und Umgangsformen usw. Aus einzelnen guten Ideen wurde ein rücksichtsloser Erneuerungsfanatismus.

Auch in der Schweiz liessen sich manche blenden und begeistern. Am Anfang war vor allem bei gewissen Intellektuellen durchaus Begeisterung da. Auch hierzulande wurden sogenannte Freiheitsbäume aufgestellt. Die Anpasser sprachen nicht von Eroberung durch die Franzosen, sondern riefen nichts weniger als den Anbruch einer goldenen Epoche aus.

So schrieb zum Beispiel der Pfarrer von Stettlen, Emanuel Salchli, eine Hymne an die Franzosen. Jede Strophe endet mit der Bitte: „Kommt, uns unter der Herrschaft der Gesetze zu kräftigen!“[2] Dass es Gesetze in einer Version waren, wie sie Pfarrer Salchli und seine französischen Freunde wollten, versteht sich.

Nach dem Einmarsch merkte man dann aber bald, was es heisst, nicht mehr Herr im eigenen Hause zu sein. Der berühmte Johann Caspar Lavater, Pfarrer am Zürcher Sankt Peter, durchschaut die leeren Freiheits-Parolen der fremden Herren sofort, er schrieb: „Oben auf jedem Dekrete – Freyheit – auf demselben Blatte: der Obergeneral befiehlt, was folgt …“[3]

Die fremden Herren nahmen den Schweizern die Unabhängigkeit, und sie nahmen ihnen auch das Geld. Das Land wurde geplündert, der Staatsschatz von Zürich und Bern beschlagnahmt. Napoleon finanziert damit seinen Feldzug nach Ägypten. General Maurus Meyer von Schauensee, ein Luzerner, der ursprünglich auf Seite der Anpasser stand, stellte bald verbittert fest: Diese Briganten wollen „nichts als Geld in die Hände kriegen!“[4]

Aber es kam noch schlimmer, die fremden Regenten wollten nicht nur Geld, sie verlangten Soldaten. Junge Schweizer wurden in Napoleons Armee gezwungen. Für fremde Interessen starben sie in Schlachten von Spanien bis Russland. Allein für den Russlandfeldzug wurden 12‘000 Schweizer rekrutiert, zurück kamen nur wenige.

Die Lehre aus dem Wiener Kongress lautet: Vorsicht vor glänzenden Visionen, die eine neue Zeit oder ein neues Europa verheissen. Vorsicht, wenn man Selbstbestimmung und das eigene Recht aufgibt. Auf die Begeisterung folgt meist die harte Ernüchterung. Denn irgendwann kollidieren Träume unweigerlich mit der Realität. Grossmächte haben es schon immer verstanden, ihr Herrschaftsstreben hinter schönen Idealen zu verstecken.

Rütlirapport 1940

Vor 75 Jahren, 1940, fand der Rütlirapport statt. Das Dritte Reich hatte soeben den sogenannten Westfeldzug beendet. Dabei wurden Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich besetzt. Die Kapitulation Frankreichs am 25. Juni 1940 war ein Schockereignis. Dass die Grossmacht Frankreich innerhalb von nur wenigen Wochen besiegt werden konnte, hatte niemand erwartet – plötzlich schien es, nichts und niemand könne die Nazis noch stoppen.

Die Schweiz war somit militärisch wie psychologisch in einer ganz schwierigen Situation:

Für den Kriegsfall hatte die Schweiz eine Verteidigungslinie, die Limmatlinie, vorbereitet, die sich im Westen an die französischen Positionen anlehnte. Man hatte in geheimen Verhandlungen sogar mit Frankreich vereinbart, dass es bei einem deutschen Einmarsch die Schweizer Front mit Truppen verstärken würde. Die Stellungen auf dem Gempenplateau bei Basel wurden zum Beispiel so angelegt, dass sie von französischer Artillerie hätten bezogen werden können. Nun war das plötzlich alles hinfällig, die Schweiz war umschlossen.

Psychologisch war die Situation schwierig, weil es so aussah, dass sich der ganze Kontinent radikal verändern würde. Das Volk traute dem Bundesrat nicht so ganz und befürchtete, dass er zu Konzessionen bereit sei. Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz verstärkte diese Befürchtungen noch, als er in einer missglückten Radioansprache von Anpassung sprach.

Die Lehre aus dem Rütlirapport lautet: Man darf sich nie darauf verlassen, dass andere Staaten in der Not zu Hilfe kommen. Es ist immer damit zu rechnen, dass man letztlich auf sich selbst gestellt ist. Gerade heute, wo alles von der Sicherheit bis zur Landesversorgung als gemeinsame internationale Angelegenheit gesehen wird, muss uns das zu denken geben. Man sollte immer auch noch an den Fall denken, dass man alleine bestehen muss.

Schluss

Und dann gibt es noch eine weitere Lehre, mit dieser möchte ich schliessen, weil sie so etwas wie das Fazit aus allem Gesagten ist: Geschichte gibt einem Volk Kraft. General Guisan sagte, beim Rütli-Rapport sei es darum gegangen, den geheimnisvollen Ruf dieser Wiese zu vernehmen. Und das fühlten die Teilnehmer des Rapports, die berichteten, die meisten von ihnen hätten vor Ergriffenheit Tränen in den Augen gehabt.[5] Kurz darauf sprach der General am 1. August am Radio zur Bevölkerung; er wiederholte seine Botschaft von Unabhängigkeit und Widerstand und bezog sich dabei auf die Freiheitsschlacht am Morgarten.[6] Er hatte Erfolg mit seiner Botschaft; es gelang ihm, der verunsicherten Bevölkerung wieder Mut und Zuversicht zu geben. So stärkte er mit dem Geschichtsbewusstsein den Wehrwillen, was entscheidend dazu beitrug, dass die Schweiz einigermassen glimpflich durch diese dunklen Jahre kam.

Die Lehren aus Morgarten, Marignano, dem Wiener Kongress oder dem Rütlirapport kommen aus ganz verschiedenen Jahrhunderten. Aber sie sind alle zeitlos. Als Teil des gemeinsamen Erfahrungsschatzes wurden sie zu einem Merkmal unserer Identität.

Die Schweiz hat sich an diesen Lehren über lange Zeit orientiert. Und sie ist sehr gut damit gefahren. Unsere geschichtlichen Erfahrungen dienten uns als Kompass, der Richtung Freiheit zeigt.

Es ist darum nicht erstaunlich, dass gewisse Kreise aus politischen Gründen alles versuchen, um unsere Geschichte umzuschreiben, in Zweifel zu ziehen – oder schlicht vergessen zu machen, indem man sie an Schulen oder Universitäten kaum mehr unterrichtet.

Der Schriftsteller Thomas Hürlimann hat kürzlich in einem Interview mit der Schweiz am Sonntag gewarnt, unser Land sei dabei, sein Gedächtnis vorsätzlich zu verlieren. Das wäre dann also die Demenz oder Amnesie, von der ich am Anfang gesprochen habe. Und wörtlich sagte er, ich zitiere:

„Das merken Sie auch den Politikern an, die uns im Ausland vertreten. Statt mit einem gewissen Stolz auf unsere Historie zu verweisen, entschuldigen sie sich für ein Volk, das zu doof sei, um der EU beizutreten.“[7]

Was Thomas Hürlimann sagt, das höre ich von vielen Leuten; überall, landauf, landab. Man sorgt sich um unsere Identität, um unsere Wurzeln. Verständlicherweise: In den nächsten Jahren wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit zu wichtigen Volksabstimmungen kommen, wo wir entscheiden müssen, ob wir weiterhin den bewährten Weg der Unabhängigkeit gehen oder ob wir uns näher an die EU anschliessen werden.

Ich bin optimistisch, dass unser Volk sich weiterhin für die Freiheit entscheiden wird. Und dieses Jahr bin ich noch optimistischer geworden, weil ich gesehen habe, dass sich das Volk nach wie vor für seine Geschichte, für seine Wurzeln interessiert. Ich bin sicher, die Schweizerinnen und Schweizer wollen nicht, dass man ihnen die Geschichte nimmt. Und sie wollen erst recht nicht, dass man ihnen die Freiheit nimmt!


[1] Historisches Lexikon der Schweiz online, Marignano, aufgerufen am 29.6.15, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8896.php

[2] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 298 f.

[3] Jürg Stüssi-Lauterburg, Weltgeschichte im Hochgebirge, Brugg 2011, S. 35

[4] Leonhard Haas, General Maurus Meyer von Schauensee und die Französische Revolution, Zürich 1956, S. 18

[5] Markus Somm, General Guisan, Widerstand nach Schweizer Art, Bern 2010, S. 138 f.

[6] Markus Somm, General Guisan, Widerstand nach Schweizer Art, Bern 2010, S. 142

[7] Schweiz am Sonntag, Nr. 152, 7. Juni 2015, S. 13 ff.


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