«Dada Universal»

Zürich, 05.02.2016 - Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Vernissage der Ausstellung «Dada Universal» im Schweizerischen Nationalmuseum - Es gilt das gesprochene Wort.

Es ist einfach, eine Rede über „100 Jahre Dada" zu halten. Denn: „Dada n'a jamais raison", wie ein Flugblatt der Pariser Dada-Bewegung 1921 verkündete. Man kann etwas behaupten, aber zugleich auch dessen Gegenteil. Und danach im Notfall sagen, die Aussage sei natürlich dadaistisch inspiriert gewesen. Der Dadaismus ist also ein geradezu ideales Thema für einen Politiker - so eine Gelegenheit kommt nur alle 100 Jahre.

Ich bin heute Abend hier in meiner Funktion als Kulturminister. Aber ich bin ja auch noch Gesundheits- und Sozialminister. Als solcher machen mich 100-jährige Geburtstage immer ein wenig nervös. Ich frage mich dann stets: Wer soll das bezahlen? Brauchen wir das Rentenalter 85? Aber die Dadaisten bekäme sowieso nur eine minimale AHV - bei so wenigen aktiven Beitragsjahren.

Als Kulturminister jedoch freuen mich solche runden Jubiläen natürlich. Besonders freut es mich, dass Zürich nicht nur anlässlich des 100. Jubiläums DADA gedenkt, sondern eigentlich jedes Jahr. Vorletztes Jahr lud Zürich am Sechseläuten Zürich ein. So grüsst eine Hand die andere. Letztes Jahr stürmte der FC Zürich ans Tabellenende. Eine dadaistisch anmutende Fundamentalkritik am Leistungssport. Und dieses Jahr wird der Swiss Mill Tower fertig. Dann zieht dort Getreide ein. Die Gentrifizierung des Brotes! Auch das ist ein starkes Statement.

Bemerkenswert ist es schon, dass hier in Zürich, der Stadt der zwinglianischen Strenge und Ordnung, auch heute noch an unserem Weltbild gerüttelt wird. Es ist ja sicher kein Zufall, dass sich Google ausgerechnet am Geburtsort von Dada angesiedelt hat. Google - der Name klingt so kindlich-verspielt wie Dada. „Gugus Dada", las man während der Unruhen der achtziger Jahre an Zürcher Hauswänden. Heute lautet das Motto:
„Google Dada". Google-Chef Eric Schmidt klingt denn auch wie ein Dadaist, wenn er sagt: „Das Internet ist die erste Erfindung der Menschheit, welche die Menschheit selber nicht versteht."

Wir feiern also 100 Jahre Dada. Da stellt sich natürlich die Frage: Was würden die Dadaisten dazu sagen? Würden sie gegen die Kanonisierung ihrer eigenen Kunst agitieren? Nicht unbedingt. Vielleicht würden sie die Musealisierung des nicht zu Musealisierenden vielmehr als zutiefst dadaistisch feiern.

Wären die Dadaisten gegen den Kunstkonsum als säkulare Religion? Ja. Nein. Vielleicht. Gewiss nicht. Unter Umständen. Und was ist mit uns? Würde eine zeitgenössische Dada-Variante heute auf Resonanz stossen - wie wir alle spontan wahrscheinlich vermuten würden? Mag sein. Nicht auszuschliessen ist aber, dass sie bekämpft und von den Institutionen leise getadelt oder laut beschwiegen würde.

Dada verspottete die Kunst als Kult. Das hallt bis heute laut nach, und würde Dada für den Kunstmarkt wohl uninteressant machen. Wir werden es zum Glück nie wissen. Wie sagte doch Max Ernst 1958: „Es ist ein Vorzug von Dada, jung gestorben zu sein." Denn deshalb lebt Dada weiter. Als kreative Zerstörung, ja - aber eben und vor allem auch als zerstörerische Kreativität. Als Kreativität aus der Zerstörung.

Nicht Unsinn - Ohnesinn!
Der Non-sense, für den Dada berühmt ist, war natürlich gar keiner - vielmehr handelte es sich um "Ohnesinn", wie die Dadaisten das nannten. Ohnesinn: das war eine Haltung, die sich mit der Normalität des gegenseitigen Abschlachtens im Ersten Weltkrieg nicht einfach abfinden wollte.

Dada hatte einen radikal anti-bürgerlichen Charakter, weil das europäische Bürgertum - vor allem das Wilhelminische - sich als radikal fehlgeleitet erwiesen hatte. Und deren Repräsentanten auch noch im Krieg vom Glauben durchdrungen waren, sie seien der Gipfel der Zivilisation. Wer diese europäische Selbstzerfleischung verteidigte, konnte nicht mehr mit Argumenten bekämpft werden, sondern nur noch
mit Hohn, Spott und Gelächter. Gelächter über eine Gesellschaftsordnung und ein Wertesystem, das sich selber pervertiert hatte.

Was die Dadaisten an- und umtrieb, war in den Worten Hugo Balls „diese unnennbare Zeit mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit all ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten."

Zwei Wochen nach dem ersten Dada-Abend im Cabaret Voltaire, am 21. Februar 1916, begann die Schlacht von Verdun - bis heute Chiffre für die Sinnlosigkeit des Krieges: Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Verdun-Soldaten in den Schützengräben betrug 14 Tage. Hunderttausende Soldaten kamen in dieser Schlacht ums Leben.

Dada war eine Anklage gegen den brutalen Irrsinn der Gegenwart. „Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit", schrieb Hugo Ball im Juni 1916. Das griff das weltanschauliche Fundament an, auf dem der rauschhafte Nationalismus, die Dummheit, der Zynismus und die Heuchelei 1916 blühten. Haltungen, die diesen Krieg in seiner monströsen Absurdität erst möglich gemacht hatten.

Das Ziel von Dada war eine Rückkehr zur Menschlichkeit. Dada: Das war subversiver Idealismus. So gesehen, waren die Dadaisten Erben - besser noch: Wiederentdecker - der Aufklärung. Nicht zufällig hiess das Cabaret eben „Voltaire".

Die Geld-Geist-Symbiose
Zu den Objekten des dadaistischen Auslachens gehörte auch die Kunst. „Jeder, dem im Museum einzig das Parkett interessant erscheint, ist Dada", schrieb der amerikanische Schriftsteller und Mäzen Walter Conrad Arensberg 1920.

Die Dadaisten kritisierten die Kunst als ästhetische Dimension der moralisch morschen Bürgerlichkeit. Sehr rasch prägte aber Dada selber die Kunst. Von Surrealismus bis Pop Art, von Punk bis Performance Art. Von Jandl bis Yello, von den Situationisten über Fluxus bis zum Büsi von Fischli/Weiss, das derzeit auf einer gigantischen Leinwand am New Yorker Times Square Milch schlürft. Und seit der neuen Deutschen Welle kennen wir endlich die Steigerungsform von „Dada": nämlich „Da da da." Wie es sich gehört, nahm die deutsche Band „Trio" diesen Song 1982 in Zürich auf.

Aber natürlich lässt sich Dada nicht einfach ins lineare Narrativ der Kunst des 20. Jahrhunderts einfügen. Dada ist widerborstig. Tristan Tzara schrieb: „Dada doute de tout/ Dada est tatou / Tout est Dada / Méfiez-vous de Dada". Dada wendet sich gegen die Dada-Versteher. Ist das subversiv? Es ist konstruktiv! „Kunst ist nicht ernst", lautete die Maxime der Dadaisten.

Dada wollte im Kampf um Aufmerksamkeit und Marktmacht gar nie mittun. Diese Haltung kollidiert frontal mit der Logik des heutigen Kunstmarktes. Man kennt die Klagen und man kann sie nachvollziehen: Heute umlärme und verharmlose der kommerzielle Rummel den künstlerischen Impuls. Heute werde jedes Aufbegehren zuverlässig zum Marketingfetisch verwurstet. In der Tat: Der globalisierte
Kunstbetrieb, in dem Geist und Geld eine Symbiose eingegangen sind, zeugt manchmal durchaus von „irrsinniger Gemütlichkeit".

Dada lebt, aber schlummert - möge Dada erwachen. Als Anti-These, als Anti-Kunst, als Anti-Bewegung, die wohl mehr auslöst als all das Ringen um Aufmerksamkeit, als all die krampfhaften Versuche der Sinnstiftung.

Die Trampelpfade der Konvention
Mit dem Geist von Dada kann man auch heute noch falsche Propheten vom Sockel lachen und falsche Entwicklungen als irren Witz aufdecken. Heute herrscht in Europa zum Glück kein Krieg wie damals. Aber wir leben in unsicheren Zeiten. In Zeiten der Globalisierung und der nationalistischen Reaktion. In Zeiten des Prekariats und unvorstellbaren Reichtums. Da wäre Dada immer noch gefragt. Bitterer Humor,
um auf bitteren Ernst hinzuweisen.

Und um die unerschütterlichen Gewissheiten als hohl zu entlarven: Was paradierte seit dem Ende des Kalten Krieges nicht alles mit geschwellter Brust als Welterklärung - bloss, um danach wieder kleinlaut verworfen zu werden. Allen voran „Das Ende der Geschichte", das längst schon deren Neustart gewichen ist. China zeigt der Welt, was Turbo-Kapitalismus bedeutet - und wird doch weiterhin kommunistisch regiert. Das sprengt jede Marx'sche Dialektik. Hier hilft nur noch Dada. Und nur schon die Frage, wer heute eigentlich die Welt regiert, führt bei Experten zu grösserer Verlegenheit: Nun, niemand so richtig. Der amerikanische Politologe Ian Bremmer nennt das treffend die „G-0".

Das alles erinnert - um wieder in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückzukehren - stark an Wilhelm den Zweiten und dessen messerscharfe Diagnose: „Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd."

Der Ernst des Auslachens
Dada bedeutet: Die Dinge sind nicht einfach, wie sie sind. Man kann ihnen den Boden entziehen, sie zu Fall bringen. Und zwar, indem man sie auslacht. Dada nimmt ernst, indem es lacht. Dada trauert, indem es auslacht. Das dadaistische Lachen bedeutet Auslachen des Alten und Herbeilachen des Neuen.

Dada-Chronist Hans Richter schrieb: „So zerstörten, brüskierten, verhöhnten wir - und lachten. Wir lachten alle aus. Wir lachten über uns selbst, wie über Kaiser, König und Vaterland, Bierbauch und Schnuller. Das Lachen nahmen wir ernst."

Dada steht bis heute für Aufbruch und Erfahrungen an der Grenze. Für Lebenskunst und Kunst-Lust statt gemütlichem Trott und den Trampelpfaden der Konvention.

Dada ermutigt uns: Es zeigt uns, dass wir uns selber immer wieder neu erfinden können - und sei es, indem wir zuerst den Status quo als absurd entlarven. 

Dada lebt in uns: Es ist unser kreativer Impuls, der uns erlaubt auszubrechen aus dem, was uns betrübt und beelendet. Dada ist das Gegenteil von Nihilismus und negiert jede Form des l'art pour l'art. Dada ist subversiv aufbauend. 

Die Dadaisten lachten über sich selber - denn sie wussten, wie schnell aus Anti-Kunst Kunst wird. Die Dadaisten arbeiteten schliesslich fleissig an ihrer eigenen Institutionalisierung: 1916 war Dada die Avantgarde, die gegen alles Bürgerliche wütete. Im Januar 1917, wurde die Galerie „Dada" eröffnet. Und zwar nicht irgendwo - sondern am Zürcher Paradeplatz. Rasanter kann eine Institutionalisierung eigentlich nicht verlaufen. Der Marsch durch die Institutionen, indem man den Institutionen den Marsch bläst.

Auch das zeigt: Der Dadaismus war kein -ismus. Er richtete seine destruktive Kreativität auch gegen sich selber. Tatsächlich zerstritten sich die Dadaisten schliesslich 1922 in Paris über der Frage, ob eine Lokomotive moderner ist als ein Zylinderhut.

Eine gute Frage. Ich gebe zu: Ich habe keine Ahnung. Was Dada ist, lässt sich gar nicht definieren. Dada ist immun gegen jeden Versuch der Sinnstiftung. Wo immer Dada säuberlich seziert und geschichtlich eingeordnet wird, muss die Devise lauten: Rettet Dada vor den Dada-Verstehern!

Nur eine Definition von Dada - sie stammt von Raoul Hausmann - ist dadaistisch genug, um sich nicht selber ad acta zu legen. Sie lautet: „Dada ist mehr als Dada!"


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